Seuche schreibt … – Teil 3

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   Teil 3: Ostwestfalen im Herbst

Es wird kälter. An manchen Tagen gleicht es einem Kampf, Stuhl gegen Felswand, sich nicht schon vor Feierabend das erste Bier aufreißen zu wollen. Würde ich jetzt noch in Hamburg wohnen, wäre mein nächster Gang vermutlich zu Rewe um die Ecke für eine Tasche 5,0er und Zigaretten. Es ist Freitag, 16 Uhr und ich bin daheim in einem Kaff, wo der nächste Supermarkt nur mit dem Auto erreichbar ist. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich Hamburg verlassen. Und es bis heute keine Sekunde bereut. Im Grunde fahre ich nur noch zum Proben hoch und selbst das ist selten. Sobald ich aus dem Zug steige, könnte ich kotzen. Oder wenigstens um mich schlagen. Bahnhöfe, grundsätzlich nichts Unangenehmes, außer in Großstädten. Die einen können nicht schnell genug rein, die andern nicht schnell genug raus, der Orientierungslose unbeholfen im Weg, ein Musterbeispiel für das Koordinationsverhalten kognitiv beeinträchtigter Obervollidioten.

Stimmt schon, seit ich hier wohne, ist zumindest mein Alkoholkonsum unter der Woche gesunken. Aber hier reicht es manchmal noch, vor die Tür zu gehen. An guten Tagen gehe ich eine Stunde mit dem Hund raus und begegne niemandem. Letzte Woche bin ich wandern gegangen.

Ziel ist ein Denkmal, 10 km von hier. Der Weg selbst unspektakulär, weil fast nur Landstraße. Jede Abzweigung wird also genutzt, so dass ich mich nach nicht einmal 5 km das erste Mal verlaufe. Landstraße getauscht gegen Feldweg, Brücke über die Weser verpasst. „Der Weg ist das Ziel“ geht mir hier noch wohlwollend durch den Kopf. Es beginnt zu dämmern.

Kolumne - 2015 - Seuches Tagebuch Teil 3
Sommer in NRW

Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, liegt Nebel auf den Feldern. Und alles ist grau. Und klamm. Wenn ich morgens in Hamburg raus gehe, ist auch alles grau und klamm. Aber es ist auch laut und eng und das macht den Unterschied. Das Angenehmste hier ist wohl die Stille und Weitläufigkeit.

Ich lasse die Brücke hinter mir. Das Denkmal thront bereits massiv und gelbmattorange in trügerischer Nähe. Gedanklich sehe ich mich schon in einer nächstgelegenen Kneipe bei einem Bier. Prosaisch, fast, ich hoffe, die Kneipe hat den typisch urigen Touch, wo beim Betreten ein Geldspielgerät erstickende Melodien von sich gibt und einem der Geruch von Zigarettenrauch, Fritteuse und Staub entgegenschlägt.

Probe, Kiez, pennen gehen, so lief es die letzten Male. Viel Spielraum gibt es wohl auch nicht und die Konstanten Rückkopplungen, Bier und fremde Matratze sind auch erträglich bis angenehm. Der Rest nicht so. „Gehirn zwischen Wahn und Sinn“ lebt in seiner Ganzheit von der Atmosphäre „Großstadt“ und wäre ohne die Jahre in Hamburg nie entstanden. Beton und Rückkopplungen im Kopf.

Auf dem Parkplatz sind Schilder, es wird langsam ernstzunehmend dunkel, ich entscheide mich für den Waldweg. In die Richtung zeigt kein Schild. Skeptisch werde ich zu meinem eigenen Erstaunen erst gute 3 km später, in denen es ausschließlich geradeaus geht und nicht in Kurven bergauf wie angenommen. Es ist nun dunkel.

Hamburg schmückt nicht nur im Klischee eine immer währende graue Smogwolke gen Firmament. In der ersten Zeit auf dem Dorf fiel mir auf, wie lange ich den Sternenhimmel nicht mehr gesehen hatte. Mir gehen dabei zwar keine philosophischen Fragen durch den Kopf, mich beeindruckt nicht die Tiefe des Universums, ich fühle mich in einem solchen Moment auch nicht besonders klein. Aber es ist trotzdem schön.

Stockfinster. Nicht einfach dunkel, nein, es ist zeitweise, je nachdem, wie dicht sich die Wipfel über mir zusammenschließen, schwarz. Pechschwarz. Kein wohliger Mantel der Finsternis, sondern das taube Gefühl von nahezu komplettem Sinnesverlust in den Augen. Auf einem nassen, vom Regen aufgeweichten Waldpfad, mittlerweile auch kaum mehr als offizieller Fußweg zu bezeichnen, meine Schritte, links und rechts Rascheln zwischen den Bäumen. Ich habe in der letzten Zeit viel mit Schreiben verbracht und vermutlich auch ein paar für diese Situation grenzwertige Bücher gelesen. Aber mich beschleicht das sichere Gefühl, wenn ich jetzt stehen bleibe, höre ich weiterhin Schritte.

Angst, schleichende Panik, ein klebriger schwarzer Schatten im Genick, Beton, Nebel, Fahrstühle, Maisfelder, Schwindel, Leere, Wirre. Sirenen in der Ferne. Alles verschwimmt für einen kurzen Moment, vielleicht nur Sekundenbruchteile, zu einem einzigen Klumpen …

… Das Schicksal war zur Abwechslung mal wieder ein Arschloch. Es ist mir jetzt, heute, in diesem Augenblick, unerklärlich, wie man zu blöd sein kann, den Aufstieg eines nun wirklich nicht anspruchsvollen Hügels auf die Reihe zu bekommen. Auch hatte ich die Umgebung soweit anders in Erinnerung, dass mir das komplette Fehlen der anversierten Kneipe ein Rätsel ist. Heimweg. Bilanz: geschätzte 25 km Fußmarsch in fünf Stunden. Viel Zeit zum Nachdenken. Der Weg also durchaus ein Ziel.

Ja, und es wird kälter.

Man mag es mir nachsehen, diese Ausgabe fiel vermutlich anders als erwartet aus. Geplant war ein ganz anderes Thema, der Text wurde aber aufgrund von „das passt gerade besser“ zurückgestellt. Die nächste Kolumne behandelt mein Hassthema Konzertorganisation. Dann auch wieder ein paar Ohrfeigen!

In diesem Sinne

Seuche

 


SeucheSeuche. Jahrgang ’80, Biertrinker, Punker, 24/7-Musik-Konsument, loses Mundwerk, „hat Maiden ’92 live gesehen“. Fronter bei FÄULNIS, Basser bei BLACKSHORE. Für Metal1.info schreibt er an dieser Stelle in unregelmäßigen Abständen über Musik, die Szene und was ihm sonst so durch den Kopf geht – wie er es selbst auf den Punkt bringt „bissig, zynisch und eben nicht auf Eierkuchen aus“.

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Publiziert am von Seuche

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