Der Kapitalismus hält unsere Gesellschaft schon so lange in seinem Würgegriff, dass wir ihn bereits als unveränderliche Gegebenheit verinnerlicht haben. Wie die Luft, die wir atmen, nehmen wir ihn nicht mehr wahr, obwohl er uns rund um die Uhr und überall umgibt. Durch die Linse der Kunst vermag man mitunter jedoch einen Blick auf dieses Schreckgespenst zu erhaschen. Der Amerikaner Paul Strand etwa stellte es in seiner berühmten Fotografie „Wall Street“ (1915) auf eindrucksvoll bedrückende Weise zur Schau. Über hundert Jahre später tun es ihm die niederländischen Black-Metaller WESENWILLE, deren zweites Album selbige Momentaufnahme ziert, auf „II: A Material God“ gleich.
Ein unser aller Leben bis heute bestimmendes Thema wie die Herrschaft des Großvermögens will freilich zeitgemäß aufbereitet werden. Ganz in diesem Sinne spielen WESENWILLE weder verstaubten Lo-Fi-Black-Metal noch eine archaisch anmutende Stilvariante wie Pagan oder Viking Metal. Stattdessen gibt das Duo sich auf dem gut 50 Minuten langen Album unverhohlen modern. Die grimmigen Screams, monumentalen, finsteren Gitarrenriffs und mal überwältigend brutalen, mal gequält kriechenden Schlagzeugarrangements sind zwar keine musikalischen Neuheiten, WESENWILLE setzen sie jedoch auf unverbrauchte Weise in Szene.
In der Performance der Band glimmt nicht etwa das ungezügelte Feuer der klassischen Second Wave, vielmehr musizieren die Niederländer mit der kalten Präzision rechtschaffenen, desillusionierten Zorns. Produktionstechnisch beeindruckt „II: A Material God“ mit einem klaren, organischen Klang, dessen schiere Wucht im Geiste Bilder einer grauen Industriehölle entstehen lässt. Den Horror grenzenloser Produktivität fangen WESENWILLE in ihrem Songwriting durch allerlei stimmige, wenn auch nicht gerade revolutionäre Ausdrucksmittel ein.
In manchen Tracks schleppen die Gitarren sich beispielsweise in hoffnungsloser Doom-Manier dahin („Ruin“), in anderen wie der Titelnummer eskalieren sie in dissonanter Raserei und immer wieder hört man von Resignation gezeichnete Spoken-Word-Samples. Dennoch gibt das Album ein sehr homogenes Bild ab, was in Anbetracht seiner Ästhetik und Thematik zwar als zweckdienlich angesehen werden kann, allerdings die musikalischen Aha-Momente, die auf einem wahren Meisterwerk nicht fehlen dürfen, vermissen lässt.
Mit ihrem trotz all seiner Wendungen essentiell monotonen Black Metal haben WESENWILLE ein beachtliches Pendant zu Paul Strands monochromer Abbildung des New Yorker Finanzviertels geschaffen. Um die stilistisch und visuell interessanteren Imperial Triumphant von ihrem trügerisch vergoldeten Thron der Kapitalismuskritik zu stoßen, haben WESENWILLE auf „II: A Material God“ zwar nicht genug Aufsehenerregendes vorzuweisen. Dennoch hinterlässt die Platte in ihrer Gesamtheit auch ohne eingängige Hooks oder Gimmicks einen bleibenden Eindruck – ein diffuses Gefühl permanenten Übels, das nur darauf wartet, in Gestalt der nächsten Wirtschaftskrise über die Massen hereinzubrechen.
Wertung: 7.5 / 10