Januar 2021

Review Wardruna – Kvitravn

Wie kann man sich in einer zunehmend digitalisierten Welt, in der Hörer und Leser mit einem medialen Dauerfeuer aus allen Kanälen mit Tanzeinlagen, Foodporn und Reisezielen bombardiert werden, noch in etwas hineinfühlen, was längst vergangen ist? Wie kann man dem Wunsch gerecht werden, etwas Authentisches, Traditionelles kennen lernen zu wollen, ohne dabei auf antiquierte Geschichtsbücher zugreifen zu müssen?

Streamingportale und die dort angebotenen Serien über Wikinger, das englische Königshaus oder griechische Sklaven können unter Vorbehalt helfen, einen Eindruck davon zu gewinnen, wie die Welt vor Jahrhunderten gewesen sein könnte – und diese Angebote sind sogar so cool in Szene gesetzt, dass selbst Geschichtsüberdrüssige die Folgen bis in die Morgenstunden bingen. Die Königsdisziplin hingegen ist es, diese Geschichten aus längst vergangener Zeit einzig mit der Kraft des gesungenen Wortes zu erzählen. Vielleicht ähnlich wie in den Anfangstagen des aufsteigenden Mittelalterrocks in Deutschland rumort es seit einiger Zeit an der Front des Nordic Folks: Mit der „Runaljod“-Trilogie haben WARDRUNA etwas geschaffen, das das Interesse an skandinavischer Folk-Musik steigerte, Themen wie die Verabschiedung der norwegischen Verfassung populär werden ließ und Nachahmer aus Frankreich (Skáld) oder Deutschland (Heilung) auf die Konzertbühnen holte.

Fünf Jahre nach der Beendigung der „Runaljod“-Trilogie veröffentlichen WARDRUNA nun mit „Kvitravn“ ihr neues Album, das vor allem belegt, dass die Nordic-Folk-Pioniere zwölf Jahre nach ihrem Debüt zugleich noch immer die Nordic-Folk-Instanz sind. Eine Instanz mit über 260 000 Followern auf Facebook, 213 000 Abonnenten auf Instagram und mehr als drei Millionen Aufrufe des Titeltracks vom aktuellen Album auf YouTube. WARDRUNA sind mit ihrer Kunst, Altes zu bewahren, erfolgreich in den modernen Medien vertreten. Der Schlüssel zu diesem Erfolg kann mit dem nun fünften Album und der steigenden Popularität des Genres nicht mehr nur in der Neuartigkeit des Projekts liegen.

„Kvitravn“ belegt in seiner über einstündigen Spielzeit, was genau WARDRUNA auch 2021 so erfolgreich macht: Neben dem eindrucksvollen Gespür für homogen verwobene Arrangements ist es vor allem die vor Kraft strotzende Atmosphäre, die in jedem der elf Songs auf ihre eigene Art und Weise geschaffen wird. Eine Kraft, die nicht durch eine auf Anschlag gespielte Doublebass oder aggressive Growls entsteht, sondern durch den Klang unverstärkter, selbstgebauter Instrumente, deren historische Erstnennung älter als manche deutsche Großstadt ist.

Obwohl die Anzahl an Tonspuren oft an einer Hand abzählbar ist und die Anzahl der verwendeten Instrumentenarten sogar noch weniger Finger benötigt, sind WARDRUNA auch auf „Kvitravn“ wieder weit entfernt von der musikalischen Eindimensionalität, die den direkten Vorgänger „Skald“ prägte: Der packende, eingängige Motivwechsel in „Skugge“ ist eine ebenso musikalische Raffinesse wie das sich immer weiter aufbauende Intro vom Opener „Synkverv“, beide wiederum aber nicht vergleichbar mit dem hochrhythmischen „Viseveiding“ oder der lautmalerischen Singleauskopplung „Grá“. Ohne weit von „Ragnarok“ entfernt zu sein, weder in der eher bedrückend-anschwellenden Atmosphäre noch im Aufbau der Songs, ist „Kvitravn“ dennoch spürbar anders: Die einzelnen Elemente entsprechen mehr einem gewöhnlichen Liedaufbau, dafür verzichten WARDRUNA allerdings auf melodische Bögen wie in „Helvegen“ („Yggdrasil“), „Heimta Thurs“ („Gap Var Ginnunga“) oder „Odal“ („Ragnarok“).

Das eine Element, was einen noch leichteren Zugang zu „Kvitravn“ ermöglichen könnte, wird somit durch das andere Stilmittel wieder aufgehoben. Die elf Tracks bleiben daher nicht sofort im Ohr und machen es anfänglich schwer, die Songs voneinander trennen zu können. Das wiederum ist allerdings kein Nachteil, wenn man sich vor Augen führt, dass WARDRUNA keine gewöhnliche Band sind, sondern ein Projekt, das sich der Vertonung vergangener Tage sowie der Natur verschrieben hat. Folglich funktioniert „Kvitravn“ auch nicht bruchstückhaft, sondern auf Albumlänge. Mag die gleichnamige Singleauskopplung auch inmitten einer bunt gewürfelten Playlist wirken, ist das nicht die Grunderwartung, die man an WARDRUNA stellen sollte.

Auch wenn die „Runaljod“-Trilogie beendet wurde, hat sich Einar Selvik zwei Alben später nicht etwa grundsätzlich neu orientiert, sondern musiziert noch immer in ebenjenem Geiste, den WARDRUNA 2009 erstmals vertonten. Somit wundert es nicht, dass „Kvitravn“ wie das schwermütige Gegenstück zum Debüt „Gap Var Ginnunga“ klingt.

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Wertung: 9 / 10

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