„Noble Savage“ von VIRGIN STEELE gehört zu den Alben, deren Größe erst nach einiger Zeit erkannt wurden. Beim Erscheinen im Jahr 1986 bekam das Album zwar gute Reviews, der kommerzielle Erfolg aber blieb zuerst verhalten. Manchmal zeigt sich die Geschichte aber doch noch von ihrer gerechten Seite – heutzutage gilt „Noble Savage“ als Meilenstein des Epic Metals, als energiegeladener, kreativer Ausbruch, der seinesgleichen sucht. Seit 1997 mit nicht weniger als drei attraktiv ausgestatteten Reissues versehen, erfährt das Album endlich eine Spur von dem kommerziellen Erfolg, den es verdient hat.
Dabei gehörten VIRGIN STEELE schon immer zu den wandlungsfähigsten und kreativsten Bands des Genres. Der Beitrag, den die Band mit ihrer „Marriage Of Heaven And Hell“-Trilogie zur Stilentwicklung des Power Metals geleistet hat, wird fast immer unterschätzt. Bevor es aber so weit war, veröffentlichten die Amerikaner bereits fünf Alben, die aus der Retrospektive betrachtet eine reizvolle stilistische Selbstfindung darstellen. In der Mitte dieser Alben steht „Noble Savage“, dessen Titelsong immer noch als <i>das</i> Paradebeispiel des Symphonic Epic Metals der 80er gelten muss. Es handelte sich zudem um das erste Album ohne Jack Starr, der noch auf dem Vorgänger „Guardians Of The Flame“ für einen Großteil der Songs verantwortlich gewesen war, nun aber nach einem Rechtsstreit und einer außergerichtlichen Einigung endgültig seinen Einfluss auf die Band verloren hatte.
Mit dem neuen Gitarristen Edward Pursino und unter Leitung des hauptverantwortlichen Songwriters David DeFeis konnte die Band nun zum ersten Mal ihre eigene Vorstellung von Heavy Metal verwirklichen. Herausgekommen ist ein mal rockendes, mal episches, mal straightes, mal verspieltes Album, das von vorne bis hinten den Geist der 80er atmet. Während einzelne Songs wie „Rock Me“ oder „Fight Tooth And Nail“ noch an das Vorgängeralbum erinnern und sich als relativ direkte, harte Rocksongs zeigen, erkennt man an den meisten Liedern die gewachsene Komplexität, die symphonischen Elemente und den durchdachten Synthesizer-Einsatz, der für David DeFeis so charakteristisch werden sollte. Epische Songs wie „The Angel Of Light“ und „Noble Savage“ bilden die ganze Bandbreite seines kompositorischen Könnens ab. Und wem sollte man das zuletzt genannte Lied noch vorstellen müssen? Eben. Zugleich aber ist das Album keineswegs festgefahren: „Don’t Close Your Eyes“ weist einen unverkennbaren Einschlag des 80er-Stadionrocks auf und ist ein Ohrwurm erster Güte. „Thy Kingdom Come“ ist hingegen purer und astreiner Epic Metal.
Auch musikalisch gibt sich niemand eine Blöße: Edward Pursino legt eine zugleich präzise wie rohe Gitarrenarbeit unter die Songs. Und von einer so präsenten Rhythmusfraktion mit klarem Bass und druckvollem Schlagzeug wie auf diesem Album können neuere Platten von VIRGIN STEELE leider nur träumen. Das Wichtigste aber ist, dass Davids Gesangstil hier zum ersten Mal seine charakteristische Variante erreicht: Er wechselt mühelos zwischen hohem Falsett und rauer Rockstimme, singt gefühlvoll und facettenreich, um plötzlich in Schreie auszubrechen – ein Fest.
„Noble Savage“ ist einer der ganz großen Klassiker von VIRGIN STEELE, des Epic Metals, und vermutlich sogar der 80er-Rockmusik im Allgemeinen. Jeder, der in einer dieser Stilrichtungen zu Hause ist, sollte es unbedingt kennen. Entschuldigungen gelten nicht: Die Reissues machen es heutzutage problemlos möglich, diesen Klassiker neu zu erleben, und verdienen zudem besonderes Lob für ihr umfangreiches Bonusmaterial.
Wertung: 9.5 / 10
Für mich das beste Lied ist übrigens der megakitschige Bonustrack „The Spirit of Steele“ auf der einen Version der CD. Mit dem Großteil des Rests kann ich irgendwie nicht viel anfangen. „Thy Kingdom Come“ ist auch ganz cool. Aber auch etwas kitschig. Verdammt