Wer sich gegen den Begriff Progressive Rock wehrt, weil er damit so „fürchterliche“ Bands wie Styx, Genesis oder Yes assoziiert – dem darf man eigentlich gar nicht weiter Beachtung schenken. Im Rahmen der zahlreichen Artikel zum neuen TOOL-Album „10.000 Days“ musste ich letztens jedenfalls über Maynard James Keenans Antipathien gegenüber diesen Bands lesen. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht, wenn man – aus dem klassischen Proglager kommend – versucht, endlich mal mit TOOL warm zu werden. Chance verspielt, Mr. Keenan!?
Es sind schon ein paar Jahre vergangen, seit mir eine meiner damaligen Mitschülerinnen ein Album namens „Lateralus“ in die Hand drückte, mit der Bitte, es mir mal anzuhören. Natürlich hatte ich schon von TOOL gehört und kannte „Schism“. Doch all die Brachialität und Mystik, all die Härte und Düsternis konnte mich damals nicht sonderlich mitreißen. Ein interessantes Album allemal, von einer Band mit einem absolut unverwechselbaren Sound, das mit Sicherheit. Doch sollte sich hinter diesen kilometerhohen, krächzenden Soundwänden und der mental kaum auszuhaltenden Achterbahnfahrt wirklich der Progressive Rock des 21. Jahrhunderts verstecken?
Nun, fünf Jahre später, rollt mit „10.000 Days“ der vierte Longplayer der in Los Angeles ansässigen Band auf uns zu, was ich natürlich zum Anlass nahm, es mal wieder mit der angeblichen Ausnahmeerscheinung zu versuchen. Um es kurz zu machen: Zu Beginn zeigten sich bei mir die gleichen Symptome wie damals bei „Lateralus“. Zu obskur, zu gleichförmig, zu zerfahren waren mir die elf neuen Tracks, die immerhin auf eine stolze Gesamtspielzeit von 75 Minuten kommen. Das Album wurde erst mal zur Seite gelegt und wich Musik, die den beginnenden Frühsommer besser untermalte. Eines Abends holte ich das edle Digipack dann doch wieder raus und nahm mir fest vor, mich einmal völlig auf die Musik zu konzentrieren. Das coole und ungeheim passende Artwork zu betrachten, während der Opener läuft, hat schon was. Eine eigens mitgelieferte 3D-Brille macht aus den auf jeder Bookletseite doppelt angeordneten Grafiken beim Durchsehen dreidimensionale Bilder. Nach den gut sieben Minuten von „Vicarious“ ist man damit aber auch schon fertig und konzentriert sich besser völlig auf die Musik, denn wie alle „intellektuellen“ Bands haben auch TOOL natürlich darauf verzichtet, Lyrics abzudrücken oder andere ausführliche Informationen hinzuzufügen. Wer neu zur Band stößt, findet beispielweise die Namen der Musiker, nicht aber die Instrumente, die sie spielen. Ich hab es eigentlich immer ganz gern, wenn ein Konzeptalbum die Songtexte mitliefert, damit ich beim Entschlüsseln der Story nicht ganz im Dunklen tappe. Doch TOOL wären nicht TOOL, würden sie meinem Wunsch entsprechen. Artwork, fehlende Informationen, sogar die Tatsache, dass die Songtitel nicht auf dem Backcover stehen, alles geplant.
Jener eine Abend jedenfalls war es, an dem sich mir immer mal wieder kleine Fragmente in der Musik auftaten, die hängenblieben und Eindruck hinterließen. Sei es eine kurze Gesangspassage, eines der zahlreichen brachialen Gitarrenriffs oder ein pumpender Basslauf. Stück für Stück erschloss sich mir dieser komplexe, überaus dichte Songkosmos. Aus den einzelnen, bis vor kurzem noch als „gleichförmig“ oder „eintönig“ abgestempelten Puzzleteilen fügte sich so langsam, aber kontinuierlich ein überschaubares Gesamtbild zusammen. Auf einmal hörte ich die Musik mit ganz anderen Ohren, empfand die brachialen, krachigen Parts und das virtuose Bassspiel von Justin Chancellor nicht mehr als undifferenzierten Lärm, sondern einfach nur als unheimlich dynamisch, kraftvoll und prägnant. Unglaublich, was für Gitarrenriffs Adam Jones an der Gitarre zockt. Die verdammt knackige, furztrockene Produktion trägt sicherlich ihren Teil zu dem einnehmenden Klangbild der Scheibe bei. Und dabei ist das alles gar nicht mal so hart, wie es mir damals zu „Lateralus“-Zeiten vorkam. Irgendwo zwischen Rock und Metal, zwischen Alternative, Progressive und Psychedelic sind Tool zuhause. Aus den ruhigen Momenten, die hier durchaus auch zahlreich vorkommen, nimmt man mit jedem Hördurchgang mehr Schönheit mit. Die mystischen, geheimnisvollen Elemente klaren nach und nach auf. Die Rhythmussektion bietet etliche waghalsige technische Kabinettstückchen an, schon sehr beeindrückend, was Danny Carey da am Schlagzeug runterreißt. Von sanftem Schlagzeug-Streicheleien, über druckvolles Drumming bis zu tribal- und ethnoähnlichen Rhythmen ist alles dabei. Hier kann der Schlagzeuger von Deadsoul Tribe übrigens noch lernen, wie man so was interesant und abwechslungsreich macht. Und, last but not least: Maynard James Keenan ist so etwas wie das Aushängeschild der Band. Es ist sein Gesang, der in seiner mal einfühlsamen, mal erschütternden und mal einfach nur rockigen Art die Stücke auf „10.000 Days“ nachhaltig prägt.
Einzelne Highlights will ich eigentlich an dieser Stelle gar nicht hervorheben. Das gesamte Album ist hervorragend und sollte, wie von der Band wohl auch beabsichtigt und erwünscht, an einem Stück und ganz gehört werden. Dennoch: Die beiden „Hits“ „Vicarious“ und „Jambi“ (mit einem tollen, total abgedrehten Gitarrensolo im Mittelteil) sind zum Einstieg sicher gut geeignet. Das fast 20-minütige, zweiteilige Titelstück gleicht einer Mischung aus Alptraum und Wolke 7, absolut fantastisch, was die Band hier für Stimmungen erzeugt. Das eher ruhige „Intension“ und das meiner Meinung nach alles überragende „Right In Two“ sind aber die wahren Helden dieses Meisterwerkes. „Right In Two“ deckt die gesamte Härte- und Gefühlsskala ab und bietet ein absolut furioses Ende. Über den Sinn und Zweck des abschließenden „Viginti Tres“ darf gern diskutiert werden. Hier werden fünf Minuten lang nur Soundcollagen ohne wirkliches Songgerüst präsentiert. Ähnliches gilt für das ziemlich zentral platzierte, aber etwas kürzere „Lipan Conjuring“, das mit merkwürdigem, indianisch anmutendem Sprechgesang aufwartet. Im Endeffekt dienen diese Tracks aber nur dazu, die ohnehin schon unheimlich dichte und packende Atmosphäre des Albums zu unterstützen, außerdem fallen sie bei einer solchen Gesamtspielzeit kaum ins Gewicht.
Um meine anfangs in den Raum gestellte Frage, ob es sich bei TOOL um den Progressive Rock des 21. Jahrhunderts handele, zu beantworten: Die Musik der Band ist überaus fortschrittlich, packend, atmosphärisch und komplex – einzigartig noch dazu. Damit ist sie ziemlich genau das Musterbeispiel für wirklich „progressive“ Musik, die neue Stil- und Ausdrucksformen erkundet. Gleiches haben Bands wie Genesis, Yes oder Pink Floyd in den 70er Jahren auch gemacht, Dream Theater und Fates Warning haben es ihnen in den 90ern nachgemacht, und nun sind es eben Bands wie TOOL, Oceansize, The Mars Volta oder Riverside, die vormachen, wie es weitergehen kann. Ob TOOL in 20 Jahren ein solcher Einfluss zugestanden werden kann, wie Genesis oder Yes heute, bleibt abzuwarten.
Dennoch sind die vier jungen Herren mit „10.000 Days“ an der Spitze der expressiven, hochkomplexen und spannenden Kunstbewegung „Musik“ angekommen. Überaus zufriedenstellend übrigens, dass sie es damit wieder an die Spitze von so mancher Chartliste geschafft haben. Aber muss man deshalb gleich Genesis niedermachen?
Wertung: 9.5 / 10