Die Dunkelheit hat viele Formen. Es gibt die Dunkelheit, die dich verschlingt und in einen tiefschwarzen Abgrund hinabstößt. Es gibt die Dunkelheit, die dich deine Einsamkeit und innere Leere spüren lässt. Und es gibt Dunkelheit, die ist wie eine Wolldecke. Du kannst dich in ihr einigeln, dich in sie hineinkuscheln. Du fühlst dich aufgehoben, geborgen, zuhause. Für die schwarze Musikwelt heißt das: Jede Form der Dunkelheit hat ihre Bands. THE BEAUTY OF GEMINA ist eine Wolldecke.
Im Fall von „Minor Sun“ steckt die Wärme bereits im Albumtitel. Auf dem Cover ist Frontmann Michael Sele zu sehen. Eine fragile Lichtgestalt, kaum vom weißen Hintergrund zu unterscheiden. Die Augen geschlossen. Blick nach innen. „Minor Sun“ ist das bisher introvertierteste Album der Schweizer. Die düsteren Industrial-Anleihen der Frühwerke sind Geschichte. Stattdessen kommen einem Dark-Wave- und Post-Punk-Bands der alten Schule als Referenzen in den Sinn. Besonders als Gitarrist scheint Sele viel von Robert Smith gelernt zu haben. Dazu kommt ein fluffiger Indie-Charme.
Damit stehen THE BEAUTY OF GEMINA wohltuend der innerhalb der schwarzen Szene immer stärker um sich greifenden Party-Mentalität entgegen. Michael Sele möchte dich nicht zum Tanzen bringen. Er hat es auch nicht oberflächlich auf deine Tränendrüse abgesehen. „Minor Sun“ sollst du dich hingeben. Du sollst dich treiben lassen, eintauchen, abtauchen.
Der entspannte Album-Flow macht’s möglich. Zwar pendeln die einzelnen Songs zwischen den Polen rockig, balladesk und hypnotisch, doch insgesamt macht „Minor Sun“ einen sehr homogenen Eindruck. Die Titel fließen beinahe ineinander. Einzelne Songs hervorzuheben ist schwer. Denn THE BEAUTY OF GEMINA setzen weder auf Ohrwürmer noch auf akustische Effekthascherei. Vielmehr präsentieren sie sich auf ihrem neuesten Album als Meister des Subtilen. Ungeduldige Zeitgenossen mit kleiner Aufmerksamkeitsspanne seien gewarnt: Ihr werdet die Scheibe wohl schnell als langweilig und gleichförmig abtun. Die wahre Schönheit mancher Melodiebögen, die ganze Größe der Songs nämlich offenbart sich erst nach mehreren Durchläufen. Das macht „Minor Sun“ zu einem nachhaltigen Vergnügen.
Als kleiner Hit lässt sich allenfalls die Vorabsingle „Crossroads“ bezeichnen. Der US-amerikanische Roots-Rocker Calvin Russell veröffentlichte den von Saylor White geschriebenen Song 1991 erstmals. Auch in der Klangwelt von THE BEAUTY OF GEMINA hat der Song seine Country-Vibes behalten. Chris Rea meets Gothic – oder so. „End“, „Close To The Fire“, „A Thousand Lakes“ und „Wednesday Radio“ verkörpern die rockig-treibende Seite der Platte. Besonders der Opener „End“ lässt dabei an Iggy Pops Berliner Phase denken. Ein Schelm, wen Michael Seles Timbre zuweilen an David Bowie erinnert… „Waiting In The Forest“, „Bitter Sweet Good-Bye“, „Another Death“ und „Silent Land“ stehen dafür in der Tradition der frühen, depressiven The Cure. Der balladeske „Winter Song“ lässt mit seiner Akustikgitarren-Begleitung tatsächlich ein Kaminfeuer vor dem inneren Auge glimmen.
„Minor Sun“ sollte jeder anchecken, der auf hoffnungsvollen Dark-Wave steht, eine Platte für lange Herbstabende sucht – oder Wolldecken mag.
Wertung: 8 / 10