Treffen sich ein Ingenieur, ein Plattenboss und ein Fabrikarbeiter. Sagt der Ingenieur: „Ich hab’ etwas erfunden, das die Musikwelt revolutionieren könnte.“ Sagt der Boss: „Mir egal.“ Darauf der Arbeiter: „OK, ich mach’s.“
Nein, das ist kein lahmer Witz, sondern ein flapsiger Abriss der Story hinter jener Erfindung, die um die Jahrtausendwende tatsächlich das Musikbusiness auf den Kopf gestellt hat: des mp3-Formats. Natürlich hat dieses Treffen so nie stattgefunden. Die drei Protagonisten mit ihrer jeweiligen Haltung zu dem Thema gab es allerdings wirklich: Der Ingenieur Karlheinz Brandenburg entwickelte mit seinem Team im beschaulichen Erlangen das mp3-Format, das den benötigten Speicherplatz von Musik bei minimalem Qualitätsverlust um sagenhafte 85 % reduzierte – und zwar bereits Anfang der 1980er-Jahre. Der Platten-Boss Doug Morris, im Laufe seiner Karriere Chef verschiedenster Labels bis hin zum Marktführer Universal, hielt diese Erfindung auch dann noch für unwichtig, als das Filesharing-Portal Napster Ende der 1990er-Jahre das World Wide Web mit mp3s überflutete. An der Schnittstelle beider Welten agierte Bennie Glover, angestellt in einem CD-Presswerk: Er sorgte mit der Piratengruppe Rabid Neurosis für den vorzeitigen Leak von mehr als 2000 Alben und trug damit einen nicht unwesentlichen Teil zur Attraktivität des illegalen Downloadens bei – was für Brandenburgs Team den Durchbruch und für Morris’ Branche fast den Ruin bedeutete.
Stephen Witt, Journalist aus Brooklyn, hat die drei in einem grandios recherchierten Buch zusammengeführt, das gleichermaßen als Fachliteratur wie als Kriminalroman verstanden werden kann – vor allem aber eine Hommage an die mp3 ist: „How Music Got Free“ erzählt die Geschichte dieser fränkischen Innovation, die schon totgesagt und technisch überholt war, ehe sie die Musikwelt doch noch unversehens überrollt hat – und zwar wie ein Tsunami: Von den Flaggschiffen des Musikbusiness als unbedeutend eingestuft und in der Folge ignoriert, erkannten diese das Potenzial der mp3-Technologie erst, als sie die Massen mitgerissen und den CD-Markt ruiniert hatte. Stephen Witt hat diese Dramatik des Stoffes erkannt – und so ist „How Music Got Free“ nicht etwa eine dröge Abhandlung zur mp3-Technologie. Es ist das Minutenprotokoll dieses Tsunamis.
In drei Handlungssträngen, die den eingangs genannten Protagonisten (und einigen weiteren Playern aus Musik-Business und der Filesharer-Szene) folgen, zeichnet Witt den Umbruch vom physischen Tonträger zur digitalen Musik so lebendig nach, wie andere fiktive Unterhaltungsliteratur schreiben. Aber Stephen Witt fantasiert eben nicht, wenn er von der Verzweiflung erzählt, mit der eine Handvoll deutscher Ingenieure mit einem genialen Produkt am Lobbyismus der Musikindustrie scheiterten. Wenn er nachzeichnet, wie aus einem kleinkriminellen Presswerk-Mitarbeiter der vielleicht bedeutendste Musikpirat der Geschichte wurde. Oder wenn er schonungslos darlegt, wie die Musikindustrie eine Chance nach der anderen verpasst hat, sich die neue Technologie zu Nutze zu machen, während zunächst Napster, Kazaa und Konsorten das Ruder an sich rissen – ehe dann ein gewisser Steve Jobs mit einer legalen Alternative namens iTunes daherkam … bekanntermaßen nicht zum Nachteil seiner Firma Apple.
„How Music Got Free“ ist so spannend wie informativ: Stephen Witt erklärt – für den Laien verständlich – in den Grundzügen die Funktionsweise der mp3-Technologie, ohne die weder Musik auf dem heimischen PC noch Streamingdienste möglich wären. Vor allem aber zeigt er auf, wie einige wenige Personen Anfang des neuen Jahrtausends die Musikwelt für immer verändert haben. Ein Buch, das explizit nicht nur Technik-Fans, sondern wirklich allen Musikhörern ans Herz gelegt werden kann: Hier wird Zeitgeschichte lebendig.
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