Seit nunmehr schon vier vollen Jahren sind die vier verbliebenen Jungs von SPOCK’S BEARD ohne ihren alten Ideengeber Neal Morse unterwegs. Komisch, dass mir die Zeit viel kürzer vorkam. Nach „Feel Euphoria“ (2003) und „Octane“ (2005) liegt uns nun ein neuer Streich vom verbliebenen Quartett vor. Und er heißt, na wie heißt er? Genau, ihr habt richtig gelesen: „Spock’s Beard“. Die Band betitelt ihr neues Album schlicht und einfach „Spock’s Beard“. Betrachtet man dazu das dunkle Pappschuber-Cover, auf dem in orange leuchtenden Lettern stilvoll und schlicht „SB“ aufgedruckt ist, so mag man den Eindruck haben, den Jungs seien einfach mal alle kreativen Ideen ausgegangen. Bleibt als letzte Hoffnung wohl nur noch die Musik, immerhin noch das Wichtigste.
Doch bevor es hier im Detail losgeht, lasst mich kurz noch eins vorwegschicken: Als ich im letzten Jahr meine Rezension zu „Octane“ verfasst habe, war ich doch recht begeistert von dem Album. Es hatte im Gegensatz zum Vorgänger „Feel Euphoria“ einen roten Faden und durchgehend gute Songs. Doch nun muss ich erschreckend feststellen, dass mir das Album nur noch wenig gibt, mir seltsam farblos und altbacken vorkommt. Tatsächlich höre ich „Feel Euphoria“ heute wieder lieber, da es einfach frischer, experimentierfreudiger und knackiger klingt. Das neue SPOCK’S BEARD-Werk würde ich am liebsten ganz für sich allein sprechen lassen, und dennoch komme ich als alter Fan (insbesondere der Neal-Ära) nicht umhin, den neuen Output Stück für Stück zu besprechen.
Also los: Ein Schlagzeug-Fill und dröhnende Hammond eröffnen den Opener „On A Perfect Day“ – Arrangements, Melodiebögen und Instrumentierung erinnern zu Beginn an „Harm’s Way“ vom Album „The Kindness Of Strangers“. Schon bald übernehmen elegische Gitarren und Keyboards die Melodieführung und präsentieren die erste „Schöne-Welt“-Melodie der neuen Platte. Nach gerade mal einer Minute! Dann wird es ganz ruhig. Nick beginnt leise und andächtig in tiefer Stimmlage zu singen. Erhaben und edel klingt das, und die erste Darbietung des Gesangs lässt uns schließlich ganz sicher werden: Das hier ist SPOCK’S BEARD at its best, deutlicher kann man am alten „Neal Morse“-Stil wirklich nicht sein. Zum Instrumentalteil fährt man dann auch allerlei Bombast und ein wunderschönes Akustikgitarrenduell auf, wenig später kommt Mellotron und Piano auf uns zu, in schönsten Farben, Formen und Tönen; dann Streicher, eine erstaunlich clean klingende Gitarre; und schließlich bewegt man sich so langsam wieder zurück zum Hauptthema und Gesang, wobei die Akustikgitarre immer wieder schöne Akzente setzt. Ohne Frage: „On A Perfect Day“ ist beinahe acht Minuten lang ganz großes Ohren-Kino, so kann es (zumindest aus meiner Sicht) gern stundenlang weitergehen. Hier ist alles vertreten, wofür ich die Band so geliebt habe.
Mit dem sich anschließenden „Skeletons At The Feast“ holen die Jungs dann entgültig den Prog-Hammer raus. Über sechs Minuten bekommen wir in diesem Frickel-Instrumental reichlich bratzende Gitarren, wildes 11/8-Getrommel, geile Bass-Groves und saftige Hammondsounds. In der Mitte machen unsere vier Freude einmal Pause und besuchen das „Paradox Hotel“ der Flower Kings. Dieser arg fröhliche und melodiöse Part klingt wirklich extremst nach Roine Stolt & Co., aber das macht ihn natürlich nicht schlechter. Danach gibt es schwere, langsame Gitarrenriffs und das Stück scheint immer verrückter zu werden, ehe es plötzlich in völliger Stille endet. Beeindruckend, plättend, wieder mal total geil.
Nun steht „Is This Love“ auf dem Programm. Moment mal, noch nicht mal drei Minuten Spielzeit? Okay, nach den ersten Sekunden ist klar, worum es hier geht. Das ist wieder eine dieser Deep-Purple-Nummern, die fast ein Cover sein könnten. Gab es mit „Same Old Story“ und „Surfing Down The Avanlache“ im Prinzip auf den beiden Vorgängern zu Genüge, gehört aber wohl wie die damaligen „Gute Laune“-Nummern der Neal-Ära alá „All On A Sunday“ nun zum Programm der zweiten SPOCK’S BEARD-Incarnation. Keineswegs schlecht, nur in dem bisherigen Kontext auf den ersten Blick ziemlich unpassend und stumpf. Nach einigen Durchläufen wird es jedoch besser und macht einfach Laune.
„All That’s Left“ beweist dann wieder einmal, dass die vier Jungs eins immer noch besonders gut können: Richtig schöne Balladen schreiben! Schönes Schlagzeug und eine einladende Pianomelodie, dazu der weiche, warme Bass-Sound von Dave Meros – das wirkt gleich unheimlich einladend. Zur Strophe hin wird der Song dunkler, die Stimmung gedrückter, der Refrain hingegen weißt absolute Herbstsong-Qualitäten auf. Hier muss auch mal auf Nick d’Virgilio eingegangen werden, der wirklich auf dem ganzen Album herzzerreißend gut und gefühlvoll singt, sowohl in den rockigeren, wie auch in den ruhigeren Momenten. Obendrauf gibt’s noch ein knappes Gitarrensolo, eine zwar kurz, aber wunderschön eingebrachte Akustikgitarre und einen wirklich tollen Text. Wundervoll!
Das fast zwölfminütige „With Your Kiss“ ist dann nach „Is This Love“ die zweite Allein-Komposition von Nick. Wer den Jungs böses will, könnte ihnen hier vorwerfen, drei Songs zusammengeklebt zu haben, aber das tut absolut nichts zur Sache, wenn das Ergebnis so mitreißend ist: Die ersten drei Minuten des Tracks sind sehr ruhig und getragen, leben wieder durch Nicks grandiosen Gesang und interessante, leicht an Weltmusik erinnernde Drumloops und Percussions. Dann baut sich langsam Spannung auf, ein kurzer Gitarrenauftritt und einsetzendes Schlagzeug bauen stimmungsvoll Fahrt auf, ein wieder mal sehr melodisch und clean gespieltes Gitarrensolo von Alan umschmeichelt die Ohren, ehe es recht ruppig in einen dunklen, ethno-ähnlichen Part mit sägenden Gitarren und Synth-Bass übergeht. Sci-Fi-Keys und Mellotron gibt’s von Ryo oben drauf. Dann folgt gleich der nächste Part: Groovige Gitarrenriffs treffen auf diesmal wirklich weltmusikalische Drums, die immer wieder von anfänglich sehr deplaziert wirkenden „Hey-Hey-Heyhey!“-Rufen durchbrochen werden. Der Part passt erst nach ein paar Hördurchgängen so recht ins Gesamtbild, muss also erarbeitet werden und ist in letzter Konsequenz nicht deplatziert. Dann geht’s zum Finale: Nick leidet wieder hervorragend und zuckersüß zu akustischer Gitarre und ein monumentales Gitarrensolo von Alan beendet diese Ode an die Liebe in all ihrer Schönheit und Bitterkeit. „Come now, hold my hand, walk with me, talk with me, life’s all good when I’m alone with you, don’t change a thing for me…hope and faith, seal my fate…with your kiss…”
“Sometimes They Stay, Sometimes They Go” wurde hauptsächlich von Alan Morse geschrieben; folgerichtig übernimmt er hier auch den Gesang. Seine Stimme passt zwar hervorragend zu diesem lässigen Blues-Rocker, dennoch herrscht hier aus musikalischer Sicht gähnende Langeweile vor. Die einzige wirkliche Nullnummer auf der Platte! Mit „The Slow Crash Landing Man“ folgt eine epische, sehr getragene Bombastballade, die stark an die ruhigeren Nummern des „Snow“-Albums erinnert. Manch einem mag das hier zu gleichförmig und langatmig sein, ich hingegen finde die aufgebaute Atmosphäre einfach genial und den getragenen Refrain wunderschön. „Wherever You Stand“ ist ein Track, der nach seiner recht straighten Hardrock-Ausrichtung zu Beginn im zweiten Teil doch noch gelungen die Progrock-Kurve kriegt und mit schönen Synthi-Soli aufwarten kann. Auch hier gilt: Erst warmwerden, dann gutfinden! „Hereafter“ beendet den imaginären ersten Teil des Albums, eine Feuerzeug-Ballade, nur von Nick und Ryo am Flügel vorgetragen; in gewisser Weise vergleichbar mit „Watching The Tide“ von „Octane“, dennoch lange nicht so kitschig und von Arrangement und Melodienführung sehr zurückhaltend und klassisch.
Dann gibt’s den zweiten Longtrack: „As Far As The Mind Can See“ buhlt mit seinen ziemlich genau 17 Minuten Spielzeit um die Aufmerksamkeit der Prog-Fanatics. In vier Teilen gibt es hier wieder die gesamte Palette von getragen-ruhigen Parts, über rockige, bisweilen sogar stark jazzige Abschnitte („Here’s A Man“), bis hin zu verträumten, symphonischen Elementen mit starkem Einsatz von Streichern und Blasinstrumenten. („They Know We Know, Stream Of Unconsciousness“). Zusammengehalten wird das Stück von tollen instrumentalen Motiven und einfach extrem ohrwurmigen Gesangsmelodien (“Dreaming In The Age Of Answers”). Bisweilen erinnern Sounds und Arrangements hier an Soloarbeiten von Kevin Gilbert, der unter anderem das Album „Beware Of Darkness“ von SPOCK’S BEARD produzierte. Alle vier Musiker bekommen hier noch mal eine Chance, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, insbesondere Dave Meros glänzt wieder mit hervorragendem, geschmackvollem Bass-Spiel. Ryo fährt extrem geschmackvolle Keyboardsounds auf, was übrigens für das gesamte Album gilt! Man findet die richtige Balance zwischen ruhigen und rockigen Momenten; in gewisser Weise fasst „As Far As The Mind Can See“ das Album sehr schön zusammen und lässt seine Konkurrenten von den zwei Vorgänger-Alben (das zerfahrene „A Guy Named Sid“ und das viel zu lange „A Flash Before My Eyes“) ziemlich im Schatten stehen. Mit „Rearranged“ findet das neunte Werk von SPOCK’S BEARD schließlich noch mal einen gelungenen Abschluss. Das klingt rockig, modern und gut gelaunt zugleich!
Die Moral von der Geschicht: Die Band hat wieder einmal ihren ganz persönlichen Cocktail aus Prog, Rock und allerlei anderem gemixt, geht dabei frisch und motiviert wie auf „Feel Euphoria“ vor, bringt in die Experimente aber eine Ordnung, wie sie „Octane“ bot, ohne so anbiedernd und altbacken zu klingen, wie es selbige nach gut 1 ½ Jahren tut. Hier werden ganz viele Musikstile gekonnt verarbeitet, man ist damit fortschrittlich und progressiv unterwegs, ohne sich um Prog als eingefahrenen Stil zu kümmern. Zwei, drei nur mittelmäßige Tracks werden auf der anderen Seite durch eine Hitdichte wieder gut gemacht, die wir so auf keinem Album der Post-Morse-Ära vorfanden. Das Album wirkt auf mich keineswegs gestückelt und unzusammenhängend und macht auch am Stück jede Menge Spaß. Der entscheidende Unterschied zu den Vorgängern ist wohl, dass sich hier drauf einfach Musik befindet, die mich immer und immer wieder innehalten und gespannt zuhören lässt, die mich berührt und emotional mitreißt – genau letzteres fehlte mir nach dem Weggang von Neal Morse zunächst schmerzlich. Um ehrlich zu sein, glaube ich sogar, dass Nick, Dave, Alan und Ryo das auch selber wissen. Vielleicht heißt das Album auch deshalb schlicht „Spock’s Beard“. Es fasst in 77 Minuten wunderbar zusammen, worum es bei der Band ging und geht. Es ist das so wichtige dritte Album einer neuen Band, das völlig gelungen ist! Und dachtet ihr wirklich, die Jungs würden es bei so einem schlichten Cover belassen? Trennt mal den Papp-Prägeschuber von der Hülle und bestaunt dieses bisweilen leicht psychedelische Cover – das so viel über die Ideendichte, Energie und Kreativität dieser Platte aussagt – und das edle, zeitlose Booklet.
Meine alte Lieblingsband ist zurück, so stark wie noch nie in ihrer aktuellen Besetzung. Eine beeindruckende Überraschung!
Wertung: 9 / 10