„Octane“ markiert nunmehr Versuch Nummero 2 der kalifornischen Progrocker um Spock’s Beard, den Weggang von Hauptsongwriter und Multiinstrumentalist Neal Morse musikalisch zu kompensieren. Nach seiner Trennung von der Band aus religiösen Motiven im Herbst 2002 hatten Spock’s Beard natürlich einige unüberwindbar große Lücken zu stopfen: Zunächst einmal fehlte der Band ein Sänger, ein zweiter Keyboarder und eine Akustikgitarre, ganz zu schweigen von einem Komponisten. Man entschied sich recht schnell, den Schlagzeuger Nick d’Virgilio zum neuen Sänger zu machen, welcher zumindest im Studio dann auch noch die Drums bedient und holte sich bei Freunden der Band songwriterische Unterstützung. Bereits im Sommer 2003 folgte dann „Feel Euphoria“. Ein äußerst modern und rockig klingendes neues Werk, dass allerdings stark darunter litt, dass es zwangsweise neue Impulse für die zukünftige Ausrichtung der Band aufzeigen, zugleich aber auch die „alten“ Fans mit auf Neal-Morse-Songwriting getrimmten Song zufriedenstellen wollte. Es ergabt sich somit kein einheitlichen Klangbild und der rote Faden fehlte komplett.
Inszwischen hat sich ganze Situation etwas entspannt, Spock’s Beard müssen niemandem mehr beweisen, dass sie auch ohne Neal Morse eigenständig weiter Musik machen können. „Octane“ ist nun Zeugnis dieses neu aufgebauten Selbstvertrauens und zeigt auch Mut, den Neal Morse-Puristen scharmlos vor den Kopf zu stoßen. Vergleicht man „Octane“ mit dem Debüt „The Light“ aus dem Jahre 1995, so könnte man glatt die Vermutung nahe legen, des handele sich hier um zwei komplett andere Bands.
Anno 2005 klingen die vier Jungs moderner, frischer und vitaler als jemals zuvor. Natürlich darf auch hier ein Longtrack für die Proggies nicht fehlen. Wo man aber auf „Feel Euphoria“ mit „A Guy Named Sid“ den Fehler machte, einfach unpassende Teile zusammenzuschustern und mit holperigen Übergängen zu versehen, zeigt das siebenteilige „A Flash Before My Eyes“, dass es auch besser geht. So wirkt dieser „Songzyklus“, wie Spock’s Beard es heutzutage nennt, wesentlich stimmer und geschlossener, obwohl man dort unterschiedlichste Stilmittel und Musikstile verarbeitet hat. Part I „The Ballet Of The Impact“ klingt z.B. zunächst wie ein augenzwinkerndes Zitat an alte Morse-Zeiten – episch, dramatisch, verproggt -, ehe mit „I Wouldn’t Let It Go“ ein Titel folgt, der schon eher von Bon Jovi zu erwarten wäre. Part III „Surfing Down The Avalanche“ erinnert etwas an die rockigeren Titel der Vorgängerscheibe und ist für Spock’s Beard Verhältnisse schon reichlich heavy und ziemlich verrückt komponiert. „She Is Everything“ hingegen bietet uns einen Song aus der Kategorie, die die Jungs immer noch am besten können: Wunderschöne, ergreifende Balladen mit in diesem Fall dreiminütigem Gänsehaut-Gitarrensolo. Part V „Climbing Up That Hill“ zeigt einmal mehr die neue mainstreamige Ader auf, wirkt aber melodisch etwas zu bekannt und abgegriffen. „Letting Go“ konzentriert sich im Wesentlichen auf Ryo’s Mellotronkeys und bildet eine kurze Überleitung zum finalen „Of The Beauty Of It All“. Hier wird das anfängliche Thema wieder aufgegriffen und der Song in ähnlich dramatischer Art und Weise abgeschlossen. In dem insgesamt über 25 Minuten langen Track geht es übrigens um das Menschenleben, welches man im Vorgang des Sterbens traumatisch von Geburt bis Tod an sich vorbeiziehen sieht und im Schnelldurchgang revüpassieren lässt.
Beim ersten Hördurchgang hatte ich nun die Befürchtung, dass man schon alles Pulver verschossen hatte, aber das alternative-rockige Instrumental „NWC“ kann zunächst einmal das Niveau problemlos halten. Hardrockige Riffs treffen hier auf Keyboardskaskaden und spacige Atmosphäre. „There Was A Time“ ist wiederum ein eher mainstreamiger Song; mit solchen „Auswüchsen“ wird man sich als Fan nun wohl zufriedengeben müssen. Aber „Waste Away“ oder „All On A Sunday“ von den älteren Alben waren ja auch nichts anderes und trotzdem gut. Neuerdings erinnern solche Songs jedoch nicht mehr an die Beatles, sondern es liegen sehr amerikanische Sing- und Songwriterbezüge vor. „The Planet’s Hum“ stellt wohl den Versuch der neuen Bandkonstellation dar, einen dritten Teil der „Thoughts“-Reihe aufzunehmen. Der Beginn erinnert frappierend an alte Spock’s Beard, mit fugisch gespielten Akustikgitarren und Bassläufen. Dann dreht sich der Song jedoch um 180° und es herrscht auf einmal dieser alternative-rockige Stil wieder vor. Ein sehr kurzweiliger, genial komponierter und äußerst „progressiver“ Song, im eigentlichen Sinn des Wortes. „Watching The Tide“ ist eine wunderschöne, feuerzeugforderne Ballade, nur von Nick und Ryo’s Piano vorgetragen. Dann sind wir auch schon bei Track Nummer 12 „As Long As We Ride“: Ein lässiger, mainstreamiger, wieder sehr amerikanischer Abschlusstrack, der allerdings qualitativ etwas gegenüber dem vorhergehörten Material abfällt.
Zusammenfassend: Ein tolles, modernes, bisweilen sehr geniales Rockalbum, auf dem Prog zwar immer noch eine gewisse Rolle spielt; es lässt sich lange nicht mit diesem Prädikat abstempeln. Der rote Faden ist jederzeit klar ersichtlich, obwohl man mit unterschiedlichsten Stile jongliert. Mit Nick d’Virgilio ist zudem ein Sänger am Start, der Neal Morse mittlerweile locker vergessen macht. Und Bassist Dave Meros sorgt mit Songs wie „She Is Everything“ für ein breites Grinsen und vollste Zufriedenheit bei jedem Fan.
Bleibt nur noch die Frage, ob dieser neue Stil auch jedem alten Fan zusagt. Übrigens: Es gibt auch „Octane“ als Special Doppel-CD-Edition, mit 8 Bonustracks und einem dreißigminütigen Making-Of zum Album.
Um es mit den Worten von „As Long As We Ride“ zu sagen:LET’S GET THIS ENGINE STARTED – die Jungs haben in jeder Hinsicht mit „Octane“ wieder aufgetankt!
Anspieltipps: „Of The Beauty Of It All“, „She Is Everything“, „The Planet’s Hum“
Wertung: 8 / 10