Epischer Metal, von echten Überzeugungstätern mit Inbrunst dargeboten. Nach metallischem Reinheitsgebot geschmiedeter Stahl mit großen Melodien, die Pathos nicht scheuen und Kitsch nicht brauchen. Der gemeine Metalhead denkt bei solch einer Beschreibung vielleicht zuerst an Primordial. Wer tiefer in der Materie steckt, dem schießt möglicherweise der Name Atlantean Kodex durch den Kopf. SOLSTICE allerdings dürften besonders viele jüngere Metal-Fans nicht auf dem Schirm haben. Und das, obwohl die Gruppe im Jahr 1998 mit „New Dark Age“ einen der wegweisenden Meilensteine im Bereich Epic Doom erschaffen hat. Auf einen Nachfolger in Albumlänge musste die Metal-Welt 20 lange Jahre warten. Nun lädt die Gruppe ihre Fans wieder zu einem Ausflug in ihre britische Heimat ein. Genauer gesagt zum „White Horse Hill“.
An jenem Hügel in der südenglischen Grafschaft Oxfordshire prangt das wohl älteste Scharrbild des Landes: ein angedeutetes Pferd, eingescharrt in den Boden, sodass die unter der Erde liegende Kreide ans Tageslicht kommt. Wann das Bild entstand und wer dafür verantwortlich ist, darüber sind sich die Forscher bis heute nicht einig. Wahrscheinlich ist jedoch, dass das über 100 Meter lange Werk mehrere Tausend Jahre alt ist. Kunst, dem Boden abgetrotzt. Etwas von Bestand, erschaffen in Blut, Schweiß und Tränen. Ein besseres Bild für das Archaische, Urwüchsige in SOLSTICE‘ Musik lässt sich fürwahr nicht finden.
Stilistisch knüpft „White Horse Hill“ weitgehend an den Stil von „New Dark Age“ an. Eingefleischte Fans dürfte das kaum überraschen, gab es doch zwei der insgesamt sieben Songs bereits seit 2016, den Titeltracks sogar schon seit 2014, über Bandcamp als Demo-Versionen zu erwerben. Wer mit dem Sound des Fünfers noch nicht vertraut ist, stelle sich Candlemass mit folkigeren Melodien vor. Die Geschwindigkeit bewegt sich über weite Strecken im getragenen Midtempo. Die Gitarren scheren sich wenig um technische Komplexität, sondern singen mit fast menschlich scheinender Stimme sehnsuchtsvolle Melodien. Doch über allem thront der kraftvoll-opernhafte Bariton Paul Kearns‘, der dem typischen SOLSTICE-Sound eine imposantere, rauere Note verleiht als die etwas weichere Stimme von Morris Ingram, die dem 1998er-Meilenstein ihren Stempel aufdrückte.
Als Höhepunkt der ohnehin starken Platte geht das mächtige, bereits vom gleichnamigen Demo bekannte „To Sol A Thane“ durch, das mit jedem Hördurchgang an Größe gewinnt: Eine Nummer über den täglichen Kampf um Individualität, Kraft und Integrität. „The wolf with lamb’s heart falls in shame. // Having died tasting no blood but his own, having died a coward.“ Eine Zeile für die Ewigkeit, ein Garant für Gänsehaut. Es folgt ein brillantes Solo. In der Fantasie steht man da schon längst in einer britischen Hügellandschaft und trotzt dem eisigen Nordwind. Wofür, wenn nicht für solche Momente, liebt man diese Musik?
Die beiden Epen „White Horse Hill“ und „Under Waves Lie Our Dead“ halten dieses Niveau locker. Auch der elegisch-schmachtende Closer „Gallow Fen“ lässt große Teile der Genre-Konkurrenz meilenweit hinter sich zurück. Einzig „For All Days, And For None“ lässt die Stimmung ein wenig einknicken. Anfangs hat die Nummer, die im Wesentlichen aus unverzerrter E-Gitarre und zurückhaltendem Gesang besteht, mit ihren starken Anklängen an die Folk-Musik der grünen Insel noch ihren Reiz. Gerade in den letzten Minuten walzt die Band ein und dasselbe Gitarren-Thema dann doch etwas zu lange ohne Variationen aus.
Daran, dass den Mannen um Gitarrist und Gründungsmitglied Richard Walker mit „White Horse Hill“ zwei Dekaden nach ihrem ersten Klassiker erneut ein potenzieller Genre-Meilenstein geglückt ist, kann das allerdings nichts ändern. Wer auf melodischen Metal in seiner archaischsten Form steht, kommt an dieser Platte – wie an der gesamten SOLSTICE-Diskografie – nicht vorbei. Kleiner Tipp: Wer damit noch nicht genug hat von der Geschichtsstunde in Sachen Epic Metal, schaut auch gleich noch bei Walkers fantastischem Nebenprojekt Isen Torr vorbei.
Wertung: 9 / 10