Slipknot Debut Album Artwork

Review Slipknot – Slipknot

Die Musikgeschichte ist voll von Stilrichtungen, deren Aufkommen für die einen, meist jüngeren Fans einer Erleuchtung gleichkam, während andere, meist ältere Musikhörer darin den Untergang der Zivilisation sahen. So war es beim Rock ’n‘ Roll, beim Heavy Metal, beim Grunge – und natürlich beim Nu Metal.

Als Bands wie Korn, Coal Chamber, Deftones, Limp Bizkit oder Soulfly Anfang der 1990er-Jahre die Grenzen zwischen bestehenden Genres verwischten, freimütig Groove Metal und Crossover mit Industrial und Rap mischten und über ihre betont lässige Attitüde und das aufkommende Musikfernsehen (MTV, anyone?) eine ganze Generation mitrissen, empfanden das nicht wenige alteingesessene Metalheads als das Ende ihrer Subkultur. Dabei hatte mit Anthrax bereits 1991 eine echte Thrasher-Instanz mit den Hip-Hoppern Public Enemy kollaboriert („Bring The Noise“), und Max Cavalera, der sich mit Soulfly ebenfalls dem neuen Fusion-Sound zugewand hatte, war damals als beinharter Thrasher bekannt. Das Zentrum der Bewegung lässt sich am ehesten in Kalifornien verorten – Wellen schlug sie jedoch bis in den Mittleren Westen, nach Des Moines, Iowa, wo sechs Musiker 1995 jene Band gründeten, die später – ironischerweise dank ihrer Masken – der Szene ein Gesicht geben würde: SLIPKNOT.

Was die damalige Formation um Shawn „Clown“ Crahan, Paul Gray und Joey Jordison mit dem heute verleugneten „Mate. Feed. Kill Repeat“ (1996) für ein Monster erschaffen haben, wurde bereits an anderer Stelle ausgeführt. Drei Jahre und einige Besetzungswechsel später waren SLIPKNOT dann bereit, die Szene wirklich zu erobern. Gemeinsam mit Star-Produzent Ross Robinson, der damals bereits Sepulturas unorthodoxes Album „Roots“ sowie die ersten Alben von Soulfly, Korn und Limp Bizkit produziert hatte, machte sich die Band an die Aufnahmen ihres selbstbetitelten Albums – nicht in Des Moines übrigens, sondern in den Indigo Ranch Studios in Malibu, Kalifornien. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit klingt, soviel sei vorweggenommen, trotzdem weniger nach sonnigem Kalifornien denn nach dreckigem Des Moines.

Schon der Opener „(sic)“ macht seinem Namen alle Ehre: Mit der Wucht von drei Percussionisten, die im Studio mit allem Möglichen auf alles Mögliche einschlugen, sowie einem zweiköpfigen Scratch-&-Sampling-Team hatte die neunköpfige Band instrumental mehr Möglichkeiten als alle Genre-Kollegen – und mit einem guten Mix aus Wahnsinn und Talent das Zeug dazu, aus den wohl vollkommen chaotischen Aufnahmesessions komplett verrückten, aber eben auch groovenden Metal mitzubringen, wie ihn die Welt noch nicht gehört hatte. Der spätere Erfolg des Albums spricht dahingehend Bände: „Slipknot“ landete auf Platz 51 der US-Charts, bekam als erstes Roadrunner-Records-Album überhaupt Platin, holte später sogar Doppel-Platin und ist bis heute, fünf Alben später, das meistverkaufte Album von SLIPKNOT.

Der sensationell rohe, unpolierte (im Übrigen mit analogem Equipment gemasterte) Sound lässt jeden Baseballschläger-auf-Metallfass-Schlag das von kreischenden Scratches malträtierte Trommelfell massieren – während das Gehirn dahinter versucht, auf den musikalischen Overflow und Coreys (zumindest damals) ungewohnt hasserfüllte, aggressive Vocals klarzukommen: Erbarmungslos prügeln „Eyeless“ oder „Surfacing“ auf den Hörer ein – und bleiben doch, anders als so viele Hardcore-Songs, durch ihre unverkennbare Instrumentierung, ihre Phrasierung und die catchy Refrains direkt im Ohr. Dazwischen haben SLIPKNOT mit „Wait And Bleed“ einen melodischen Über-Hit platziert, der der Band 2001 fast noch den Grammy für „Best Metal Performance“ eingebracht hätte (der Preis ging schlussendlich an „Elite“ von den Deftones). Das Klassiker-Trio macht im Anschluss „Spit It Out“ komplett, in dem aus dem nicht nur das Scratching, sondern auch der Gesangsstil passagenweise aus dem Hip Hop entlehnt sind – und der bis heute als Song für das „Zero Bullshit“-Ritual fester Teil fast aller Liveshows geblieben ist.

An dieser Stelle wird eine ungewöhnliche Frage relevant: die nach der Album-Version. Bei der Erstauflage folgt auf Position neun nach einem kurzen Interlude („Frail Limb Nursery“) mit „Purity“ ein weiterer melodischer Hit im „Wait And Bleed“-Stil folgt. Wegen eines die Texte betreffenden Urheberrechtsstreits wurden beide Tracks kein halbes Jahr später allerdings wieder vom Album genommen. Stattdessen rückte der in den Recroding-Sessions zu „Slipknot“ als Überschuss aufgenommene Demotrack „Me Inside“ auf der (auch geringfügig geremasterten) Zweitauflage: einer der wildesten, chaotischsten SLIPKNOT-Songs überhaupt. Wenngleich der Tausch dem Erfolg von „Slipknot“ (in der der gängigeren, zweiten Fassung) keinen Abbruch getan hat, wirkt er sich doch erheblich auf die „Mikroatmosphäre“ des Songgefüges aus. Insofern ist wenig verwunderlich, dass SLIPKNOT bei späteren Auflagen zumindest „Purity“ (nicht aber „Frail Limb Nursery“, in dem auch Audiofragmente unerlaubt genutzt wurden) wieder in die Tracklist aufgenommen haben.

Beeindruckend an „Slipknot“ ist auch seine Kurzweiligkeit: Wenngleich die stilistische Spielwiese der Band spätestens zu diesem Punkt abgesteckt ist, wird das Album auch in der zweiten Hälfte nicht langweilig. Auf das schmissige „Liberate“ lassen SLIPKNOT das düster-schleppende „Prosthetics“ folgen, in „No Life“ kommt der Rap-Einfluss gleichermaßen zu Tragen wie ein weiterer Klargesangsrefrain, und nach dem flotten „Diluted“ gibt es mit „Only One“ den alten „Mate. Feed. Kill. Repeat“-Hit in neuem Soundgewand zu hören. Den Albumabschluss betreffend rückt dann nochmal die Versionen-Frage in den Fokus: Auf beiden 1999er-Standard-Editionen rundet der 19:18-Minuten-Track „Scissors“ (bestehend aus ebendiesem Song, fünf Minuten Stille, einem Outtake-Schnipsel und dem knackigen „Eeyore“ als Hidden Track) das Album angemessen chaotisch ab. Auf späteren Digipak- und Jubiläums-Ausgaben hingegen versandet „Slipknot“ in einem etwas willkürlich wirkenden Sammelsurium aus Alternativ-Versionen und Demotracks.

Etwas geflunkert haben SLIPKNOT natürlich damit, dass sie „Mate. Feed. Kill. Repeat.“ nicht als Album, sondern als Demo werten. Lässt man sich jedoch auf diese Zählung ein, ist „Slipknot“ fraglos eines der stärksten Metal-Debüts überhaupt: ein Album, das in seiner rohen Aggression, in seinem chaotischen und doch nie wirklich unstrukturierten Charakter bis heute unerreicht geblieben ist – von anderen Combos sowieso, aber auch von SLIPKNOT selbst. Das Eingeständnis dafür ist in den Live-Statistiken der Band zu finden: Die vier (!) meistgespielten sowie 43,8 % aller von SLIPKNOT jemals live gespielten Songs entstammen diesem Album. Und auf keiner Tour haben SLIPKNOT von irgendeinem Album (das jeweils aktuelle eingerechnet!) mehr Songs ins Set genommen als von „Slipknot“. So viel Commitment zum eigenen Debüt ist selten – aber auch nur selten ist es so berechtigt.

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Wertung: 9.5 / 10

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