In der Dunkelheit liegt ein Glitzern auf den Straßen von New York City. Rote Augen, eingefallen und starr, blicken aus der Gosse. Die Nacht verbirgt ihre Sünden. Blühende Gärten und reine Luft gibt es anderswo. Ganz weit weg. Hier, im Großstadtdschungel, tanzen Menschen am Abgrund, weil sie das Glück suchen – und es zu Lebzeiten meist doch nicht finden. „Streets“, der Titelsong des sechsten SAVATAGE-Albums, zieht seinen Hörer sofort hinein in eine Geschichte über Aufstieg und Fall, Ausweglosigkeit und spirituelle Erlösung, aus der es für knapp 69 Minuten kein Entrinnen gibt.
DT Jesus hat sich vom Drogendealer zum Rockstar emporgearbeitet. Und doch kommt er seiner Vergangenheit nicht aus. Selbst süchtig geworden, landet der einstige Star in der Gosse. Als er die Möglichkeit zu einem Comeback bekommt, erscheint plötzlich ein alter Dealer-Kollege auf der Bildfläche, bei dem DT noch Schulden hat. Im Gerangel ersticht der Manager des Musikers den ungebetenen Gast. Verwirrt und tief erschüttert streift DT nun durch die Straßen New Yorks. Er sucht nach Antworten im Glauben und bei den Kindern der Nacht, begegnet einem Obdachlosen und einem Zuhälter. Schließlich trifft er auf eine verlotterte Gestalt, die sterbend am Straßenrand liegt. Es handelt sich um einen bekannten Musiker. DT kümmert sich um sein Jugendidol und sieht schließlich, wie die Seele des Mannes in Gestalt eines Kindes den Körper verlässt. Ein spirituelles Erlebnis, das dem Suchenden endlich zu innerem Frieden verhilft.
Die Story hatte Produzent Paul O’Neill, der SAVATAGE bereits auf den Vorgängern „Hall Of The Mountain King“ und „Gutter Ballet“ unterstützte, ursprünglich für ein Broadway-Musical konzipiert. Das Brüderpaar Jon Oliva (Gesang, Keyboard) und Criss Oliva (Gitarre) hingegen strickte aus dem Stoff ein Konzeptalbum, auf dem schwer groovende US-Metal-Riffs neben zuckrigen Klavierballaden stehen. Die Gruppe, die ursprünglich rohen Heavy Metal spielte, erreicht hier ihren kreativen Zenit, indem sie hart und zart endgültig untrennbar vermählt. Eine derart beeindruckende Symbiose gehen Rock’n’Roll und gefühlstriefendes Pathos sonst allenfalls auf Meat Loafs „Bat-Out-Of-Hell“-Alben oder den großen Momenten von Queen ein. Die Kitsch-Grenze ist stets zum Greifen nah. Und doch: Wer hier keine Gänsehaut bekommt oder ein Tränchen vergießt, hat wohl nie geliebt, gelebt und gelitten.
Dass der Aufstieg und Fall eines Musikers den Lebenslauf Jon Olivas spiegelt, ist angeblich Zufall. Der beleibte Amerikaner lässt damals kaum eine Party, kaum einen Rausch aus, was sich auf die Chemie in der Band und die Performances nicht eben positiv auswirkt. Das nicht minder beeindruckende Vorgängeralbum „Gutter Ballet“ war teils in einer Entzugsklinik aufgenommen worden. Auch wegen seines ungesunden Gesangsstils muss Oliva den Posten am Mikro ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Streets“ abgeben. Auf den frühen Savatage-Alben gehören seine markerschütternd spitzen Schreie und das leidenschaftliche Krächzen in der Stimme zu den liebgewonnenen Markenzeichen. Auf „Streets“ kommt dieser Wahnsinn etwa in vor Energie strotzenden Brechern wie dem groovigen „Jesus Saves“, dem düster-schleppenden „Ghost In The Ruins“ oder der Speed-Nummer „Sammy And Tex“ eindrucksvoll zum Tragen, in der Oliva in Personalunion DTs Manager und seinen Dealer-Kontrahenten verkörpert.
Dazu liefert Criss Oliva Gitarrensounds, die in ihrem warmen und zugleich schneidenden Ton nur von ihm stammen können. Wer die Augen schließt, sieht die Röhren im Verstärker glühen wie eine einsame Laterne in der Großstadt-Gosse. Der heute leider oft vergessene Gitarrenheld, der knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung von „Streets“ bei einem Autounfall starb, verstand es wie nur wenige andere, sein Instrument zum Singen zu bringen, ihm eine eigene Seele einzuhauchen. Wer eine ähnlich gelungene Symbiose aus beeindruckender Technik und herzzerreißender Emotion sucht, wird sonst höchstens bei großen Namen wie Randy Rhoads oder Ritchie Blackmore fündig. Wer’s nicht glaubt, möge sich nur einmal die unfassbar großartigen Riffs und Soli in „Can You Hear Me Now“ anhören, und sich bekehren lassen.
Und doch sind es, trotz aller metallischen Tugenden, die Balladen, die dem Album sein Herz geben und immer wieder nach den Taschentüchern greifen lassen. Die Songs „A Little Too Far“ und „Heal My Soul“ etwa bestreitet, oder besser: durchleidet, Jon Oliva alleine mit Klavier und Gesang. In den fragileren Momenten von „Streets“ scheinen Einflüsse großer Pianomänner wie Billy Joel oder Elton John durch, aber auch der Beatles, die der Savatage-Fronter eigenem Bekunden nach sehr schätzt. Auch Paul O’Neills Musical-Einfluss zeigt sich hier deutlich. Nur würde es ein Andrew Lloyd Webber wohl niemals fertigbekommen, so viel authentischen Schmerz, so viel aufrichtiges Hadern in seine Kompositionen zu packen. Savatage vermählen all das zu etwas absolut Eigenständigem. Ein Stil, den später auch das Nachfolgeprojekt Trans-Siberian Orchestra in wesentlich glatterer und opulenterer, dafür aber auch tatsächlich kitschiger Form aufgreifen wird.
„St. Patrick’s“ und „If I Go Away“ beginnen ebenso balladesk, steigern sich dann aber zu intensiven Rockballaden. Zu dieser Gattung gehören auch die beiden Höhepunkte des Albums: „Tonight He Grins Again“ bietet zu düsteren Orchestersamples und schweren Gänsehautriffs immenses Identifikationspotenzial für jeden, den die Selbstzweifel zerfressen: “Time, time, time again. I’m just looking for a friend. But no one seems to be around, just this monkey that I’ve found. Still he is my only friend, and tonight he grins again.” Und dann ist da noch der Abschlusstrack “Believe”, in dem Protagonist DT sich einer nicht näher benannten Spiritualität zuwendet. „I am the way, I am the light, I am the dark inside the night“, singt Jon Oliva. Und schon überlegt sich selbst der atheistische Metalhead, der sonst auch satanischen Black Metal feiert, doch an einen Gott zu glauben.
Wertung: 10 / 10
Ja!
(und jetzt muss ich noch Zeichen bis zur Gültigkeit füllen. Hab ich übrigens schon gesagt, dass Nico in allem recht hat?)
Dem kann man nichts hinzufügen.
Eine schöne Rezension. Vor allem in Bezug auf Criss Oliva möchte ich zustimmen. In einer gerechten Welt wäre er ein Gitarrenheld geworden, wie es jetzt vielleicht John Petrucci ist.
Mit „Streets“ als Album in all seiner gewaltigen Länge bin ich leider nie hundertprozentig warm geworden. Es gibt diese fantastischen Songs wie „Tonight He Grins Again“, „A Little Too Far“, „St. Patricks“, „New York City Don’t Mean Nothing“ (ich glaube, ich bin der einzige Mensch, der diesen Song mag), „Ghost In The Ruins“ und, ja, auch „Believe“. Ich finde Jon Olivas Stimme unglaublich beeindruckend und aufwühlend. Aber dennoch rauscht ca. die Hälfte des Albums ziemlich kontaktlos an mir vorbei, ohne dass ich viel genauer sagen könnte, warum. Die Kombination aus Heavy Metal und schwerblütigen Klavierballaden funktioniert in meinen Augen z.B. auf „Dead Winter Dead“ tatsächlich besser.