Review Rammstein – Zeit

Gut Ding will Weile haben“ weiß der deutsche Volksmund – doch RAMMSTEIN kann er damit nicht gemeint haben. Immerhin brauchten die Berliner für ihr letztes, selbstbetiteltes Album (2019) ganze zehn Jahre – herausgekommen ist nicht unbedingt ein Meisterwerk. Ausgerechnet für den Nachfolger „Zeit“ haben sich die Berliner nun unerwartet wenig Zeit genommen – ein gutes Zeichen also? Überraschend ist das jedenfalls nur in Maßen – schließlich hatte sich auch im Kalender von RAMMSTEIN infolge der Pandemie eine zweijährige Lücke aufgetan. Bereits im Oktober 2020 hörte man aus dem Bandlager „Sadly no tour this year – but it’s great to be back in the studio!“, im April 2021 ging es an den letzten Schliff, der Rest war Promophase.

Diese haben RAMMSTEIN und ihr PR-Team sensationell genutzt: Ein erster Song debütierte im Weltraum, auf Erden wurden „Zeitkapseln“ versteckt, um die Fans die Setlist entschlüsseln zu lassen, und zur zweiten Single gab es neben einer „Infohotline“ am Popup-Kiosk in Berlin (und online) ein eigenes Beauty-Magazin. Von den beiden Musikvideos ganz zu schweigen, die in künstlerischer wie auch technischer Sicht einmal mehr Maßstäbe setzen.

Die Aufgeschlossenheit neuen Ideen gegenüber beschränkt sich jedoch nicht auf diese eher nebensächlichen Aspekte – vielmehr sind sie ein Spiegel der Nonchalance, mit der RAMMSTEIN Album um Album tun und lassen, wonach ihnen der Sinn steht. Den eigenen Ruf durch stumpfes Auf-der-Stelle-Treten zu ramponieren ist Ding der Berliner nicht. Dafür nehmen sie mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit in Kauf, dass ihnen wohl nicht alle Fans ohne zu murren auf diesem Weg folgen werden. Trotzdem sind die Chancen hoch, dass „Zeit“ bei der Gefolgschaft wieder auf mehr Gegenliebe stößt als sein Vorgänger.

Auch diesmal liegt der Fokus nicht länger auf Härte: Wirken RAMMSTEIN im Opener „Armee der Tristen“ noch einigermaßen bemüht, viele ihrer Trademarks zu integrieren, sind klassische NDH-Riffs auf das ganze Album gesehen nur selten das dominierende Element. Wenn doch, wirkt es mitunter sogar beinahe erzwungen, etwa wenn „OK“ zum musikalischen Selbstzitat („Links 2 3 4“) gerät. Überzeugen kann dagegen das ebenfalls bissige „Giftig“ mit seinem „Sehnsucht“-Vibe. Schon die pathetische Halbballade „Zeit“ als zweiter Track des Albums und das folgende „Schwarz“ fallen jedoch eher melancholisch und stark pianolastig aus. Die Vorab-Single „Zick Zack“ erinnert (nicht nur des Videos wegen) an „Keine Lust“ („Reise, Reise“), „Meine Tränen“ wiederum an die ruhigen Songs von „Mutter“. Nicht unerkannt bleibt die Ironie, dass der Refrain in „Lügen“ als Persiflage an Pop und Hip-Hop von Autotune-Effekten grotesk verzerrt wird – der Song selbst bleibt jedoch eher blass. Und dann ist da natürlich noch der Elefant im Raum:  „Dicke Titten“, das zumindest musikalisch mit einem bayerischen Blasmusik-Intro und Schlagerrefrain überrascht.

Nicht alles davon ist gut – das meiste aber zumindest gut gemacht: „Zeit“ wirkt als Album in sich schlüssig und vereint geschickt alte Stilmittel mit neuen Elementen. Echte Hits sind dabei nicht so leicht auszumachen wie etwa „Deutschland“ und „Puppe“ auf dem Vorgänger, viele der Songs haben nach den ersten Durchläufen jedoch zumindest noch Potenzial, mit der Zeit zu wachsen. Die Ausfälle sind hingegen schnell ausgemacht – allerdings vornehmlich anhand der Texte. Denn hier ist die qualitative Bandbreite mal wieder groß: „Angst“ weiß als Seitenhieb auf Fremdenfeindlichkeit zu gefallen, in „Zeit“ spielt Till mit vielen schönen Bildern und „Meine Tränen“ lässt die subtil-unangenehme Stimmung eines „Spiel mit mir“ aufkommen. Kaum zu glauben, dass dahinter der gleiche Texter steht wie bei „OK“ (als Akronym zu „Ohne Kondom“ zu lesen) und „Dicke Titten“ – zwei Lustmolch-Lindemann-Texten der besonders platten Sorte. Und natürlich gehört es zur jahrzehntelang kultivierten Ambivalenz von RAMMSTEIN, dass sie nicht einfach einen kritischen Song über Schönheitswahn („Zick Zack“) schreiben können, ohne zumindest mit einem Vers zu Geschlechtsumwandlungen zu provozieren. Sieht man von diesem kalkulierten Aufreger ab, hat „Zeit“ unerwartet wenig Skandalpotenzial.

Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen“ – auch das ist ein Sprichwort, wie es deutscher kaum sein könnte. Für RAMMSTEIN-Fans gilt wohl entsprechend: „Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit ‚Zeit‘ gehen“. Wer nämlich immer noch auf eine Rückkehr zum „klassischen“ Stil der Band gehofft hatte, ist spätestens mit diesem achten Album abgehängt. Die Zeiten des brüllenden NDH-Sounds sind bei RAMMSTEIN endgültig vorbei, ein zweites „Mutter“ wird es nicht geben – und selbst die große Provokation bleibt aus: Die Erwähnung einer Geschlechtsanpassung als der große Aufreger? Mit „Zwitter“ im Ohr kann man darüber bloß milde lächeln.

Doch an alledem ist nichts falsch: „Zeit – bitte bleib steh’n“ singt Till Lindemann im Titeltrack – aber wie die Zeit bleiben auch RAMMSTEIN eben nicht stehen. Sie entwickeln sich vielmehr auch nach fast 30 Jahren Bandgeschichte immer noch weiter und legen gerade darum mit „Zeit“ ein Album vor, das man ihnen als Künstlern glaubt. Das kann man wahrlich nicht über alle alternden Rock-Ikonen sagen. War es das nun? „Adieu“ als letzten Track nicht nur dieses Albums, sondern der Bandhistorie zu inszenieren, wäre ein Move, der zu RAMMSTEIN passen würde. Trotzdem weiterzumachen aber auch. Wofür sie sich entscheiden, wird nicht „Zeit“ zeigen, sondern die Zeit.

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Wertung: 7.5 / 10

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3 Kommentare zu “Rammstein – Zeit

  1. Ich sehe das ganz ähnlich wie du, Moritz. Das Album ist wieder ein ganzes Stück besser als der Vorgänger, was zwar keine große Kunst, aber dringend notwendig ist. Die ganz großen Hits fehlen und an die meisten früheren Alben kommt „Zeit“ schon gar nicht heran, aber es hinterlässt einen deutlich besseren Gesamteindruck als „Rammstein“ (wollen wir es mal so nennen). Mein Vertrauen in die Band ist zumindest wieder einigermaßen hergestellt, auch wenn „Zeit“ schon davon profitiert, dass „Rammstein“ eine solche Enttäuschung war.

    1. Ich bin Rammstein-Fan 2. Stunde. Also seit Engel. Was soll ich sagen? Ja, es ist ein anderes Rammstein. Ich bin inzwischen aber auch gealtert und die ersten grauen Haaren machen sich nicht erst seit heute breit. Die Zeit vergeht und natürlich entwickelt sich eine Band weiter wenn sie nicht irgendwann im Sumpf der vielen one Hit wonders ersaufen will.
      Ich finde es nachvollziehbar dass sie nicht seit über 25 Jahren Herzeleid trällern und etwas anderes versuchen. Mir liegen inzwischen die aktuellen rammsteiner mehr als die Anfangszeit. Hätte ich damals auch nicht gedacht…

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