Das erste potenzielle Jahreshighlight kommt für Anhänger traditionellen US-Prog-Metals früh. Bereits Mitte Februar hieven die Veteranen PSYCHOTIC WALTZ mit „The God-Shaped Void“ ihr neues Werk auf die Plattenteller und in die CD-Schächte – das erste seit 23 Jahren und noch dazu in Originalbesetzung. Entsprechend gespannt wartete die Fangemeinde auf das neue Material des Fünfers, der eine neue Platte seit der Live-Reunion im Jahr 2010 immer wieder angekündigt hatte, und dann doch auf sich warten ließ.
Es stellt sich die Frage: Wo positioniert sich PSYCHOTIC WALTZ im Jahr 2020? Nun, „The God-Shaped Void“ versprüht weder den jugendlich-kreativen Wahnwitz der Klassiker „A Social Grace“ und „Into The Everflow“, noch den knackig-kompakten Groove von „Mosquito“. Vielmehr wählt das neue Werk einen Mittelweg und klingt – surprise, surprise – gereift sowie dadurch im allerbesten Sinne subtil.
Nichts auf „The God-Shaped Void“ springt dem Hörer auf Anhieb ins Gesicht. Klar: Es gibt interessante Takt- und Rhythmuswechsel, geführt von einem höchst kompetenten Bass-Schlagzeug-Gespann, RIffs aus mehr als drei geschrammelten Powerchords und Gesangslinien, die oft den Pfad des Erwartbaren verlassen. Wir befinden uns schließlich in der Progosphäre. Doch anders als bei manch vergleichbarer Kapelle hat es hier niemand nötig, sich durch instrumentale Muskelspielchen in den Vordergrund zu drängen. Wie die Band in aktuellen Interviews betont, sind die neuen Songs als echtes Gemeinschaftsprodukt in engem Austausch untereinander entstanden – und das hört man auch. Teamwork, Homogenität und atmosphärische Dichte sind hier die Trümpfe. Der perfekt austarierte Mix von Jens Bogren tut dazu sein Übriges. Die Klänge, die aus der gottförmigen Leere hervorquellen sind wunderbar unaufdringlich und unaufdringlich wunderbar. Nur den, der sich ihnen aufmerksam hingibt, belohnen sie schließlich mit all ihrer Anmut.
Obgleich sich auf „The God-Shaped Void“ nicht ein einziger verzichtbarer Song befindet, stechen drei Nummern rasch heraus: Da ist zum einen der zweite Track, „Stranded“, der mit seinem elegischen Chorus zu Herzen geht. „We are stranded, stranded on the dark side of the sun.“ Frontmann Devon Graves kann hier mit reichlich Herz und Gefühl in der Stimme punkten, ebenso wie es das Gitarren-Doppel Dan Rock/Brian McAlpin mit seinen seidenweichen Leads tut. Zum anderen weiß das epische „While The Spiders Spin“ mit seiner wohldosierten Härte besonders zu gefallen. Im Text geht es um das – zugegebenermaßen mittlerweile schon etwas abgegriffene – Thema der Social-Media- und Smarthone-Sucht. Dass Graves hier nicht allzu sehr ins Floskelhafte oder Oberlehrerhafte abdriftet, spricht für seine Fähigkeiten als Texter. „Here in my cell I can choose my addiction while the spiders spin.“ Und schließlich gelingt es dem erfreifenden „Sisters Of The Dawn“ gar, vollends zur Qualität der ersten beiden PSYCHOTIC-WALTZ-Scheiben aufzuschließen, indem es alle bereits angeführten Vorzüge treffsicher vereint.
Von den drei Übersongs der Platte abgesehen, lassen auch der Vorabtrack „All The Bad Men“ mit seinem lässigen Groove à la „Mosquito“ und die Flötenparts – Jethro Tull! – im unaufgeregten „Demystified“ aufhorchen, die bei Fans der früheren WALTZ-Diskografie eine amtliche Gänsehaut auslösen dürften.
So enttäuscht „The God-Shaped Void“ die Erwartungshaltung der Fans keinesfalls. Ganz im Gegenteil: PSYCHOTIC WALTZ ist ein Album gelungen, das Prog-Metal-Afficionados im Jahr 2020 gehört haben müssen. Und wer sich mit den oft vergessenen Altmeistern aus Kalifornien bislang nicht befasst hat, aber mit Größen wie FATES WARNING, DREAM THEATER, QUEENSRYCHE oder auch NEVERMORE etwas anfangen kann, hat nun einen zusätzlichen Anreiz, seine Bildungslücke zu schließen. Denn mit PSYCHOTIC WALTZ ist künftig wieder zu rechnen. Und wie.
Wertung: 9 / 10