Review Nevermore – Enemies Of Reality

Drei Jahre sind nun seit dem Meisterwerk „Dead Heart In A World“ vergangen, und nach etlichen ärgerlichen Veröffentlichungsverschiebungen kam das fünfte Nevermore-Album „Enemies Of Reality“ am 28. Juni 2003 raus.
Wie man es von den Mannen aus Seattle gewohnt ist, wird hier wieder ein Geniestreich abgeliefert, der voll und ganz für die lange Wartezeit entschädigen kann. Doch wie bisher gibt es von Nevermore keine Liedchen zum träumerischen Mitsingen, sondern sperrige, technisch hochanspruchsvolle, vertrackte und teils kranke und psychopatisch wirkende Kompositionen, die dem Hörer seine volle Konzentration abverlangen. Vor allem die Gitarrenläufe, die Songstrukturen und die Refrains fallen schon irgendwie ziemlich krank aus.
Und die muss man in „Enemies Of Reality“ auch wirklich reinstecken, denn sonst kommt man mit dieser Scheibe beim besten Willen nicht zurecht. Es sind schon einige Hördurchgänge nötig, um mit dem Material warm zu werden, mehr noch als bei dem vergleichsweise schon fast kommerziell wirkendem „Dead Heart…“. Doch wenn man sich erstmal reingehört hat, verliebt man sich echt schnell in die neun erhabenen Songs.

Der Titeltrack gibt die Richtung schon recht deutlich vor: Alles ist noch eine Stufe thrashiger, aggressiver und verworrener als das bisherige. Wahnsinnige Breaks tauchen überall auf, Jeff Loomis beweist bei Soli und Riffs, dass er ein Gott an der Gitarre ist und Warrel Dane liefert wie gewohnt wieder eine absolute Glanzleistung ab. Melancholisch, depressiv, gequält, aggressiv, wütend, ruhig – alle nur denkbaren Stimmungen, die die Songs verlangen, setzt er nahezu perfekt um und läst den Hörer mitfühlen und mitleiden.
Mit „Ambivalent“ und „Never Purify“ geht es weiter, die beiden Songs gehen fast natlos ineinander über und sind ganz nebenbei mit das härteste, was Nevermore je geschrieben haben. Neben dem gestiegenen Thrash-Anteil lassen sich jetzt auch ohne große Probleme die Death Metal Vorlieben von Jeff Loomis ausmachen.

„Tomorrow Turned Into Yesterday“ ist die Ballade des Albums und auch der einzige ruhige Song. Und ohne viel drum rumzureden muss ich sagen, dass man eine Metal-Ballade wohl kaum brillanter gestalten kann, einfach nur überirdisch gut.
„I, Voyager“ schließt an die ersten drei Tracks an und ist einfach nur optimal zum headbangen. „Create The Infinite“ legt an Härte noch etwas zu, bevor es mit „Who Decides“ wieder etwas ruhiger und verdammt melodiös zugeht.
Der wohl seltsamste Track der Bandgeschichte ist „Noumenon“. Erst war es nur als Instrumental geplant, doch zu den psychedelisch Klängen sind Warrel Dane doch noch ein paar Texte eingefallen. Sehr seltsam, das Ding…
Eine letzte Thrash-Granate gibt’s für alle geschundenen Köpfe nochmal mit „Seed Awaking“, das wirklich die letzten Zweifler verstummen lassen sollte.

Insgesamt gesehen befindet sich kein einziger Ausrutscher oder ein schwaches Lied unter den neun Stücken!
Dazu gibt’s textlich wieder viel Hochgenuss, wie man es von Nevermore gewohnt ist. Der Leitsatz der CD ist „There is no stronger drug than reality“ und die Songs sind lyrisch gesehen recht hoffnungslos und depressiv ausgefallen.
Leider hat „Enemies Of Reality“ nur eine Spielzeit von 41 Minuten, was natürlich etwas enttäuschend ist. Dazu aber muss man sagen, dass die Songs alle sehr direkt auf den Punkt kommen und keine überflüssigen oder in die Länge ziehenden Spielereien oder gar Füller vorhanden sind. Von dem starkem Material würde man zwar gerne noch 10 oder 20 Minuten mehr hören, aber bevor sich ein schlechter Track druntermischt, ist es schon ok so.

Das einzig wirklich zu bemängelnde ist die Produktion. Century Media hat der Band das Budget gekürzt, und so konnte man nicht wie 2000 zu Andy Sneap, sondern musste mit Kelly Gray von Queensryche arbeiten. Der machte seine Sache nicht so gut, denn irgendwie klingt alles zu stumpf und zusammengepfercht. Vor allem nach der Mörderproduktion der „Dead Heart…“ ist das enttäuschend, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran.

Wer mit Nevermore wegen der Komplexität, Sperrigkeit und Vielschichtigkeit der Songs bisher noch nicht klar gekommen ist, sollte um „Enemies Of Reality“ am besten einen ganz weiten Bogen machen, denn es ist noch anstrengender als die vorherigen vier Alben. Allen anderen sei gesagt, dass es nicht mit zwei oder drei mal anhören getan ist, da muss man sich schon ein wenig mehr Zeit dafür nehmen, bis es zündet und sich die volle Wucht und das ganze Potential der neun Stücke entfaltet. Dann allerdings lässt es einen nicht mehr los.
Als Bonus gibt es auf der auf 5000 Stück limitierten Erstpressung noch eine DVD mit 5 Viceoclips, die aber insgesamt eine eher schlechte Qualität haben und eigentlich unnötig sind. Leider muss das schwarze Jewel-Case ohne Seitenaufdruck auskommen, womit es im CD-Regal eher anonym bleibt.

Ein Hinweis: Etwa ein Jahr nach der Veröffentlichung hat Century Media eingelenkt und das Album nochmal überarbeiten lassen, womit es in der Neuauflage vom Sound her einem Nevermore-Album gerecht wird.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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