1999 – das war schon ein großartiges Jahr für Spock’s Beard-Fans! Erst mit „Day For Night“ ein neues Spock’s Beard-Album, das in der Presse in höchsten Tönen gelobt wurde und sich gut verkauft hat, dann Neals erster Versuch auf Solopfaden und letztendlich die Nachricht, dass Neal zusammen mit Mike Portnoy, Roine Stolt und Pete Trewavas unter dem Siegel Transatlantic zu Beginn des nächsten Jahres ein Prog-Album rausbringen wird. Dazu gab es eine Spock’s Beard-Tour durch Amerika und Europa.
Das heißt im Rückschluss, dass die folgenschweren Ereignisse, also Neals Trennung von der Band, noch in weiter Ferne lagen – und dementsprechend das schlicht „Neal Morse“ betitelte Solodebüt des charismatischen Frontmanns der wohl spaßigsten aber auch emotionalsten Progband der Neuzeit sich nicht mit einem Wort dem Thema Religion und Glauben widmet. Zumindest nicht mehr, als es zuvor auch bei Spock’s Beard der Fall war. Spiritualität war ja seit jeher ein großes Thema in Neals Lyrics.
Musikalisch ist das Album zweigeteilt. In der ersten Hälfte, die die Tracks 1 bis 7 ausmacht, gibt es gepflegten Singer-Songwriter-Pop, der gelegentlich auch mal leichtfüßig und sorgenfrei drauflosrockt. Die zweite Hälfte der CD nimmt das Prog-Epic „A Whole Nother Trip“ ein; vermutlich konnte Neal es einfach nicht ganz lassen, auch einen langen Progsong mit abzuliefern, schließlich waren Spock’s Beard gerade auf dem aufsteigenden Ast und da möchte man Progfans sicherlich nicht enttäuschen.
Die große Stärke von Neal Morse ist dabei, dass er sich in beiden Bereichen musikalisch gleichermaßen wohl fühlt und zu Großtaten fähig ist. Wer also Spock’s Beard-Songs wie „June“, „Distance To The Sun“ oder „Skin“ mag, der wird den Songwriter-Teil der Scheibe ebenfalls lieben. Nach dem lässig drauflos groovenden, von Piano begleiteten „Living Out Loud“ gibt es mit „Lost Cause“ gleich einen schönen Gute-Laune-Rocker fürs sommerliche Autofahren. Das darauffolgende „Landslide“ wird mit Akustikgitarre und Drumcomputer eingeleitet, worauf wenig später das Piano einsetzt und eine relativ eintönige, flache Strophe beginnt. Diese Gestaltung ist allerdings pure Absicht, denn nur so kann sich der wunderschöne Refrain erst so richtig entfalten: „All of your life you’ve been waiting for someone to touch you inside, with your life passing by you were one rock shy of a landslide; you’re on the brink of becoming, strap in, get ready to ride, you don’t have to try, you’re just one rock shy of a landslide”. Nach dieser Wohltat für die Seele folgt einer der uninspiriertesten Neal Morse-Songs überhaupt: „That Which Doesn’t Kill Me“ – das ist Radio-Formatrock, macht zwar gute Laune, ist aber musikalisch wirklich nichts Besonderes.
Neal scheint es allerdings zu mögen, verschiedene Stimmungen harsch miteinander zu kombinieren: Nach „That Which Doesn’t Kill Me“ kommt Neals womöglich traurigster Song ohne christliche Lyrics überhaupt, „Everything Is Wrong“ (zumindest was die Stimmung angeht), gleich darauf folgt die ultimative Poprock-Radio-Nummer „Nowhere Fast“, die eine kitschige Teenagerliebe ganz wunderbar simpel, aber einfach gut vertont. Neals überspitzt-lockere Lyrics in diesem Song wären heute wohl undenkbar: „I had a shirt designed, it has her face pressed into mine; I never wear it, I keep it new, she says she’ll kill me if I do; I’m puzzled and perplexed, I’m overwhelmed and under-sexed and I still can’t figure why she says she’d rather die than be with me”. Und als wären diese Gegensätze nicht genug, gibt es eine andere Teenagerliebes-Story gleich hintendran: „Emma“ ist eine typische Neal Morse-Ballade a la „June“ oder „We All Need Some Light“ und nicht minder ergreifend. Dieser Song entstand bereits in den 80ern und erzählt die fiktive Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen, die sich ganz natürlich entwickelt und bei der wir vom Jungen erfahren, dass er sich vorstellen könnte, mit dem Mädchen bis an sein Lebensende zusammenzusein. Doch sie stürzt sich eines Tages von einem Hochhaus. „Then there was a totally new game to play, we both gave our promise to never betray; and I was so sure we’d be married one day, at the early age of ten I loved Emma and I would ‚til the end; one day she climbed up the tower, she kept looking down, the split-second lasted for hours ‚til she lay on the ground.”
Nach diesem Wechselbad der Gefühle gibt es dann noch die Prog-Vollbedienung: „A Whole Nother Trip“ ist eine vierteilige Suite von 23 Minuten Länge. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war der Song für Neal Morse-Verhältnisse erstaunlich rockig und modern. Bemerkenswert ist bereits hier, wie homogen alles klingt; als hätte es eine ganze Band eingespielt. Ein erster Vorbote dafür, dass Neal später in der Lage ist, seine Prog-Alben beinahe ganz allein aufzunehmen. Die Suite bewegt sich dabei in etwa auf dem Niveau von „The Healing Colors Of Sound“ vom kurz zuvor erschienen Spock’s Beard-Album „Day For Night“ und bietet mit „The Man Who Would Be King“ einer meiner absoluten Neal Morse-Lieblingssongs. Nie wieder hat er eine solch perfekte Mischung aus Flamenco-Parts, tollen Melodien und purem Groove erschaffen. Das Album endet schließlich mit „It’s Alright“ auf einer ruhig und besinnlichen Note.
Vorbei sind 55 Minuten beste Neal Morse-Musik, die ich nach wie vor jedem nur immer wieder ans Herz legen kann. Kein anderer Musiker schafft es wie er, mit seiner Musik Herz, Hirn und Bein gleichermaßen anzusprechen. Neal kann es auch alleine, und Neal war Spock’s Beard: Das ist der (erste) Beweis.
Wertung: 9 / 10