„You’ve got some new momentum, you better keep on going!“ singt NEAL MORSE im Opener und Titeltrack seines neuen Albums „Momentum“. Und das ist nicht nur ein Appell an den Hörer, sondern kann mit Fug und Recht auch auf das musikalische Schaffen des amerikanischen Multi-Instrumentalisten bezogen werden. Seit Beginn seiner Solokarriere 1999 hat er schließlich nicht weniger als 18 Studioalben veröffentlicht, wobei die Spannweite von ausgefeilten Prog-Konzeptwerken über (christliche) Pop-Platten bis hin zu Cover-CDs reicht.
Sein neuester Longplayer, „Momentum“, ist dabei überwiegend im Bereich des Progressive Rock zuhause und entstand relativ spontan. Aufgrund der engen Terminpläne seiner langjährigen Studiokollegen Mike Portnoy (ex-Dream Theater, Adrenaline Mob) und Randy George (Ajalon) mussten die Aufnahmen im Januar 2012 stattfinden; allerdings gab es noch nicht genug Songs für ein ganzes Album, weshalb Neal große Teile des Materials ziemlich spontan vor den Aufnahme-Sessions komponierte und dann gemeinsam mit seinen treuen Verbündeten den letzten Schliff gab. Gott sei Dank ist diese Tatsache so gut wie gar nicht zu hören, die sechs hier versammelten Kompositionen halten problemlos das von Neal Morse gewohnte Niveau. Das ist allerdings auch das größte Problem von „Momentum“.
Neal fällt das Songwriting unheimlich leicht, aus ihm sprudelt konstant Musik heraus, die gutklassig, unterhaltsam und handwerklich ohne Fehl und Tadel ist. Was ihm allerdings fehlt, ist die kritische Auseinandersetzung mit seinem eigenen Material. Es ist schlichtweg zu vorhersehbar, um wirklich noch tief bewegen und begeistern zu können. Es wirkt kalkuliert und nach „Erfolgsschema F“ zusammengesetzt. Zum Abschluss läuft es durch die Morse-eigene und ggf. noch göttliche Qualitätskontrolle, die leider immer wieder die gleichen Maßstäbe ansetzt und dieselben Korrekturen vornimmt. Dass Neal in der Lage ist, dieses Niveau konstant und so oft wie nötig abzurufen, ist bewunderns-, aber auch beklagenswert.
Und so enthält „Momentum“ alles, was ein erfolgversprechendes Morse-Album braucht: Locker-flockige Rocker mit mehr („Momentum“) oder weniger Prog-Einschlag („Weathering Sky“), betörende Akustik-Balladen („Smoke And Mirrors“), hochkomplexe Prog-Orgien („Thoughts Part 5“) und einen epischen Longtrack („World Without End“). Am neuartigsten ist ausgerechnet das ultrasüße Pop-Törtchen „Freak“, das von einem eingängigen Streicher-Arrangement vorangetrieben wird. Soetwas hat man von Neal bisher noch nicht gehört; leider zählt es aber auch nicht zu seinen Glanztaten. Die ganz großen Momente zum Niederknien, wie z. B. „It’s For You“ vom letztjährigen Werk „Testimony 2“, fehlen dieses Mal fast gänzlich. Lediglich „Thoughts Part 5“ sticht mit seinen spannenden Gesangs- und Instrumentalarrangements aus dem gebotenen Material heraus.
Keine Frage: Wer Morse-Musik mag und noch nicht genug davon hat, wird auch hier wieder hervorragend bedient. Es ist nach wie vor beeindruckend, dass Neal quasi im Vorbeigehen und auf Abruf immer wieder eine qualitativ hochwertige CD ohne ernsthafte, objektive Schwächen veröffentlichen kann. Fließbandarbeit war aber noch nie besonders erfüllend; die Arbeitskraft ist meistens nur halbherzig dabei. Das Endprodukt findet zwar soviele Abnehmer, dass sich die Produktion lohnt, schmeckt aber meist lange nicht so gut, als würde man das gleiche weniger maschinell und in echter Handarbeit – mit Herz und Liebe – herstellen. Was „Momentum“ fehlt, kann man nicht in Musiknoten oder Bewertungspunkten ausdrücken; man spürt es einfach.
Wertung: 8 / 10