Review Metallica – St. Anger

Hach ja. „St. Anger“. Das bis heute unverarbeitete Trauma aller METALLICA-Fans und Ursprung aller Lars-Ulrich-Mülltonnen-Witze. Nachdem die Band spätestens auf „Load“ und „Reload“ klargestellt hatte, dass sie an ihrem früheren Thrash-Stil nicht mehr interessiert ist, war „St. Anger“ für viele nur die Bestätigung des tragischen Untergangs einer einst so großartigen Metal-Combo. Doch wer das achte Studiowerk (Garage Inc. nicht mitgezählt) auf seinen rohen, unbearbeitet wirkenden Sound, die ungespannte Snare und das Fehlen von Gitarrensoli reduziert, der tut ihm – im Gegensatz zum ähnlich verschmähten, aber tatsächlich extrem misslungenen „Lulu“ – massiv Unrecht.

„St. Anger“ stellt in gewisser Weise einen Wendepunkt, vielleicht sogar den wichtigsten in der ganzen Bandvergangenheit dar. Die problematische Entstehungsgeschichte ist den meisten nicht zuletzt durch den fantastischen Dokumentarfilm „Some Kind Of Monster“ bekannt, der das damalige Trio bei den Aufnahmen begleitet: METALLICA sind frustriert, sie befinden sich in einem enormen Kreativitätsloch mit ungewisser Zukunft. James Hetfield, der sich zusätzlich mit einem aufreibenden Alkoholentzug konfrontiert, gerät immer wieder mit Lars Ulrich in Egokämpfen aneinander. Ein neuer Bassist ist nach dem Ausscheiden von Jason Newsted auch noch nicht gefunden. Die Musiker sehen keinen anderen Ausweg und engagieren einen Psychotherapeuten. Die finale Zusammenarbeit mit Produzent Bob Rock, der auch den Bass auf „St. Anger“ einspielte, mündete in einem äußerst bemerkenswerten, ungewöhnlichen Album, das nicht nur die Band rettete, sondern auch vielen auf die Füße trat und sie verärgerte.

Dabei ist „St. Anger“ nur die logische Konsequenz aus dieser Schaffenskrise. Die Platte ist geprägt von ungezügelten Emotionen, von Zorn, Enttäuschung und Schmerz. Nie zuvor gelang Hetfield eine solche Bandbreite an Stimmungen in seinen Gesang zu integrieren. Von sanftem, melodischem Gesang seufzt und brüllt er sich hin zu aggressiven Wutausbrüchen. Passend dazu wurde das Album eben auch nicht glattgebürstet und perfektioniert, um die Echtheit der Intentionen dahinter nicht auszulöschen. Natürlich ist „St. Anger“ bei genauem Hinhören dennoch genau auf diesen Punkt hin professionell produziert worden und keineswegs die dilettantische Garagen-Aufnahme, als die es von vielen bezeichnet wird. Dass die Fehlentscheidung, die Snare ungestimmt zu lassen, der Wirkung der Musik leider trotzdem eher schadet, war letztlich einer der viel zu sehr aufgebauschten und in den Vordergrund gedrängten Gründe für den unberechtigten Untergang der Scheibe.
Denn in Sachen Songwriting zeigen sich METALLICA auf „St. Anger“ in Bestform – nur eben nicht so wie erwartet. Obwohl sich zwischendrin immer wieder viele extrem markante und fast durchgehend starke Riffs finden, dient die rohe Musik erstmals nicht als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern nur als Energieüberträger. Tatsächlich muss „St. Anger“ weniger als musiktheoretisch zu analysierendes Werk, sondern eher als musikalisches Psychogramm einer zerrütteten, gegen ihre inneren Dämonen ankämpfenden Band verstanden und gehört werden.

Das macht das Album tatsächlich oft schwer verdaubar, jedoch auf eine gewinnbringende, herausfordernde Art und Weise. Songs wie der geniale Titeltrack, das wunderschön zwischen einem kraftvollen Verse und einem ruhigen Refrain wechselnde „Dirty Window“ oder das jammrige „Purify“ beweisen, dass METALLICA nichts von ihrer Eingängigkeit verloren haben. Nur findet sich diese auf „St. Anger“ meist im Gesang wieder. Auch das fast schon wie eine Beschwörungsformel ausgerufene „Frantic-tic-tic-tic-tic-tic-toc!“ aus dem Opener zeigt, dass die Band noch immer ikonische, sich sofort ins Hirn brennende Momente erschaffen kann. Tatsächlich lässt sich auf „St. Anger“ kein schlechter Song finden, es gibt keine Filler-Stücke. Jedes Lied hat seinen ganz eigenen Charakter und erinnerungswürdige Momente.
Was „St. Anger“ tatsächlich stellenweise etwas problematisch macht, ist die Neigung der Truppe, ihre Songs auf unnötige Längen auszudehnen, indem sie plötzlich gegen Ende ganz neue Riffs einführt, die mit dem restlichen Song wenig bis nichts zu tun haben. Auf die achteinhalb Minuten des ansonsten gelungenen „Some Kind Of Monster“ trifft das ebenso zu wie auf die des nicht minder starken, rockigen „Invisible Kid“ oder des bedrückenden Schlusssongs „All Within My Hands“. Dennoch zeigen sich METALLICA auf dem mit 75 Minuten ebenfalls leider etwas zu langen „St. Anger“ in enorm guter Form und können nicht nur elf überaus starke Songs, sondern auch eine interessante Weiterentwicklung ihres Sounds sowie das wohl unverfälschteste und intimste Album ihrer Geschichte vorweisen.

Dass „St. Anger“ – mal wieder – an der Engstirnigkeit und fehlenden Bereitschaft der Stammhörer sich auf Experimente einzulassen scheiterte, ist sehr schade. Nicht nur ist das achte, äußerst progressiv vorgehende Werk der Metal-Legenden wieder eine merkliche Verbesserung gegenüber den rückwärtsgewandten Blues-Rock-Hommagen „Load“ und „Reload“, es präsentiert die Band auch so lebendig und interessant wie selten zuvor und danach. Zwar hat das Album mit seinen überlangen Songs und dem wirklich sehr gewöhnungsbedürftigen, nicht immer das ganze Potential der Songs erfassenden Sound auch so seine Probleme, im Vergleich zu sauber produzierten, aber wesentlich seelenloseren Veröffentlichungen wie dem 13 Jahre später erschienenen „Hardwired…To Self-Destruct“ stellt es aber eine willkommene Abwechslung in der Diskographie von METALLICA dar und wird hoffentlich irgendwann für seine Stärken angemessen geschätzt werden.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Simon Bodesheim

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert