Review Marillion – Somewhere Else

„Somewhere Else“ – ein Albumtitel, wie er zu der emotionalen, verträumten, oft melancholischen und leicht entrückten Musik von MARILLION nicht besser passen könnte. Steve Hogarth & Co. müssen der Musikwelt überhaupt nichts mehr beweisen, Großtaten wie das Konzeptwerk „Brave“ oder geniale Alben wie „Seasons End“ und „Marbles“ haben längst klargestellt, dass die Band enorm wandlungsfähig ist und sich stilsicher ihren völlig eigenen Sound zwischen elegantem Hochglanzpop, Postrock und psychedelischen und progressiven Einflüssen kreiert hat. Freilich hat man auf dem Weg dahin einige Fans verloren – zunächst durch das Überbordwerfen des reinen Progs, das im Prinzip schon mit „Seasons End“ begann, dem ersten Album, das nicht mehr von Fish, sondern von Steve Hogarth eingesungen wurde. Phasen mit leichter künstlerischer Orientierungslosigkeit (und anschließendem Fanschwund) gab es freilich auch, hier wären Werke wie „Radiation“ oder „Marillion.com“ zu nennen, wobei ich ganz deutlich „Radiation“ für das schlechteste MARILLION-Album überhaupt halte. Die Kritik an „Marillion.com“ teile ich allerdings nicht, denn auch wenn das Album banduntypisch war, hat es einen ganz eigenen, urbanen, edlen und einzigartigen Lounge-Pop-Sound, der mit Experimenten angereichert wurde und damit insgesamt das MARILLION-Album mit der speziellsten und seltsam faszinierendsten Stimmung ist.

Warum jetzt die lange Einleitung, wenn es doch eigentlich um das neue Album „Somewhere Else“ gehen soll? Nun, die Fußabdrücke, die „Marbles“ vor drei Jahren hinterließ, sind praktisch kilometerbreit. Übersongs wie „Neverland“, „The Invisible Man“ und allem voran „Ocean Cloud“ als vielleicht genialster Longtrack der Bandgeschichte werfen einen übergroßen Schatten der Erwartung auf das neue Album der britischen Edel-Soundtüftler. Einen Schatten der Erwartung, den man lieber ganz schnell über Bord wirft, wenn man es mit „Somewhere Else“ nicht zu schwer haben möchte. Der augenscheinlichste Grund: Das neue Album ist kein Doppeldecker mit Breitwandepen, sondern eine Einzel-CD mit etwas mehr als 50 Minuten Spielzeit und Songs, die sich zwischen drei bis fünf Minuten bewegen. Lediglich der Titeltrack, „A Voice From The Past“ und „The Wound“ schießen um zwei bis drei Minuten über diese Grenze hinaus. „Somewhere Else“ kommt größtenteils schneller auf den Punkt, ist direkter und nur an wirklich wenigen Stellen ausladend. Ein großer Schock, war man doch von Steve Rothery seit „Marbles“ wieder minutenlange Gänsehaut-Soli gewöhnt, die es zwar im Gegensatz zur „Radiation“- oder „Anoraknophobia“-Zeit auf dem neuen Album noch gibt, die aber dennoch erstaunlich punktiert und knapp ausfallen – Gott sei Dank aber nicht weniger mitreißend geworden sind. Auch Ian Mosley am Schlagzeug und Steve Hogarth als „Gesicht“ der Band machen ihren Job wieder überragend. Mosley spielt charmant und zurückhaltend wie immer und ist gerade dadurch einer der besten und einzigartigsten Schlagzeuger überhaupt. Über den Gesang von Steve Hogarth brauch nicht mehr viel gesagt zu werden – keiner leidet authentischer als er, seine Stimme ist von MARILLION für mich absolut nicht mehr wegzudenken und auch auf „Somewhere Else“ für einige emotionale Höhepunkte verantwortlich. Bassist Pete Trewavas bleibt wie immer dezent im Hintergrund und Mark Kelly greift diesmal weniger zu synthetischen, programmierten Sounds, sondern nimmt mit dem Piano vorlieb.

Gut, zurück zum Wichtigsten: Den zehn neuen Tracks. Meine ersten Hördurchgänge waren von ziemlicher Enttäuschung geprägt. Allem voran deshalb, weil ich ein zweites Marbles erwartet habe und natürlich – wie bisher immer bei MARILLION – eine konstante, nachvollziehbare Weiterentwicklung. Doch das ist „Somewhere Else“ nicht geworden. Eher tut man so, als habe es die letzten beiden äußerst frischen Werke nicht gegeben und orientiert sich vor allem am Sound der „Marillion.com“. Lediglich die kürzeren „Marbles“-Nummern schimmern in den neueren Songs noch gelegentlich durch. Das Problem: Auf den ersten „Blick“ entfalten die neuen Nummern nicht die gewohnte Magie, dazu kommt das „schon mal gehört, nur eben besser“-Gefühl. „Somewhere Else“ ist kein „Marillion.com“, kein „Marbles“, sondern irgendwo undefinierbar dazwischen – die Musik kam mir anfangs so farblos und unnahbar vor, wie der Kram der „Radiation“.

Schon der Einstieg mit „The Other Half“ nagt an den Geduldsnerven: Die ersten zwei Minuten sind ein weiterer Versuch, zwanghaft rockig-flockig rüberzukommen, erinnern irgendwie an eine Mixtur aus „Between You And Me“ und „The Damage“ und sind erst nach einiger Zeit zu ertragen. Dann nämlich, wenn man den zweiten Songteil vollständig erfasst hat: Ein ruhiges Piano leitet über in einen bandtypischen lyrischen Teil mit schönem Gitarrensolo und auftrumpfenden Steve Hogarth. Erst im Zusammenwirken entfalten beide Teile ihre Wirkung! „See It Like A Baby“ ist als erste Single ausgewählt worden und ein relativ einfallsloser Song, der mich relativ kalt lässt, keineswegs aber wirklich schlecht ist. Als Single wäre „Thankyou Whoever You Are“ meiner Meinung nach besser geeignet gewesen, die klassischen und ergreifenden Gesangsmelodien, der grandiose Refrain und der zurückhaltende, aber einschmeichelnde instrumentale Unterbau wissen in aller Einfachheit zu überzeugen und setzen sich im Ohr fest. „I won’t ask you to care, but say you’ll be there“, singt Hogarth da, und der Rezensent muss sich zum ersten Mal auf dem neuen Album eine Träne verdrücken. „Most Toys“, die kürzeste Nummer des Albums, wird wohl für arg unterschiedliche Meinungen sorgen. Ein Song, der zwanghaft kurz, knackig und rockig rüberkommen soll, dabei aber melodisch und kompositorisch so gut wie nichts zu bieten hat. „Love it or hate it“ heißt es wohl hier. Als Einzeltrack ist der Song ziemlich schwach, auf dem Album nimmt er allerdings eine interessante Rolle ein, wirkt wie ein Trennstrich zwischen den eröffnenden Songs und den längeren, ausladenderen Nummern, die nun folgen.

„Somewhere Else“ und „A Voice From The Past“ sind überragende Kompositionen, die ihre Schönheit und Brillanz allerdings erst sehr spät preisgeben und für mich ganz klar die besten Tracks sind. MARILLION waren immer schon eine Band, die sich im Sieben- bis Achtminutenformat außerordentlich gut zurechtgefunden hat. „Everyone I love, lives somewhere else“ gibt Hogarth im Bombastfinale des Titeltracks zu bedenken und spätestens wenn sein Organ nach 3 ½ Minuten „A Voice From The Past“ an Intensität gewinnt und sich Dramatik aufbaut, die Textzeilen „Give me a smile, hold out your hand; I want you to wake up and do something strange; I want you to listen, I want you to feel someone elses pain!” ertönen und Rothery in gewohnter Manier die Gitarrensaiten erklingen und damit den Körper zur Gänsehaut werden lässt, ist klar, dass die Jungs hier alles richtig gemacht haben. „No Such Thing“ ist eventuell die Nummer des Albums, die am ehesten an „Marillion.com“ erinnert, hier gibt es ein wiederkehrendes, eintöniges Gitarrenmotiv und eine sehr einprägsame, verfremdete Gesangsmelodie, die allerdings dauerhaft wiederholt wird und immer mit dem Text „there is no such thing as…“ beginnt. Hier wird kompositorischer Leerlauf überdeutlich, obwohl die Stimmung und Atmosphäre durchaus gelungen ist. Andererseits zeigt dieser Song ein generelleres Problem des neuen Albums auf: Die Lyrics, insbesondere in den Refrains, sind alles andere als einfallsreich und wiederholen meist ein und dieselbe Textzeile auf sehr ähnlicher Melodie öfters hintereinander – so geschieht es bei „See It Like A Baby“, „Thank You Whoever You Are“, „Most Toys“ und „No Such Thing“ sehr auffällig – und auch bei den anderen Tracks werden desöfteren Textzeilen gedoppelt.„The Wound“ ist noch mal ein großartiger, enorm vielschichtiger Track, der nun auf einmal doch wieder die Epik von der „Marbles“ mit der Modernität der „Anoraknophobia“ verbindet und in seinen acht Minuten immer neue musikalische Ufer ansteuert. Verhalten gerockt wird hier auch, zumindest für MARILLION-Verhältnisse. Großes Ohrenkino! „The Last Century For Man“ und „Faith“ stellen mich dann zufrieden, sind jedoch meiner Ansicht nach eher Kandidaten, denen man nach den starken Tracks im Mittelteil weniger Beachtung schenkt. „The Last Century For Man“ fällt dabei durch die enorm sarkastischen Lyrics „god bless America, I mean it, god bless the UK, I mean it, […] and god help us all” auf. Ich hoffe zumindest, dass das in all seiner Stumpfheit sarkastisch gemeint ist. „Faith“ startet als reine Akustikgitarrenballade und erinnert an „Made Again“ aus seligen „Brave“-Zeiten – leider (wiedereinmal) ohne an dessen Klasse heranzukommen – und endet wie eine Nummer von Yo La Tengos Album „And Then Everything Turned Itself Inside-Out“, die ich vor Urzeiten mal gehört habe.

Allein die völlig verschiedenen Alben, die ich hier in der Rezension genannt habe, sollten Indiz dafür sein, dass MARILLION hier mehr denn je ein ziel- und orientierungsloses Album aufgenommen haben. Sie präsentieren einen bunten Mix aus allem, was man von der Band in den letzten zehn Jahren so an verschiedenartiger Musik gehört hat, so dass „Somewhere Else“ für mich als Studioalbum leider nicht besonders gut funktioniert, weil man als Hörer sich nicht auf einen durchgehenden Soundkosmos einstellen kann. Sehr schade, wo man mit „Marbles“ gerade Altes und Neues kombiniert und perfektioniert hatte – so hätte es gern weitergehen können. Den größten Einfluss hatte auf „Somewhere Else“ dabei sicherlich „Marillion.com“, allerdings nur auf dem Papier, da die Stimmung dieser Platte kein zweites Mal in dieser Klasse erreicht werden kann. Für sich einzeln betrachtet wissen jedoch beinahe alle Songs zu gefallen, allen voran die drei starken Nummern im Mittelteil und „Thank You Whoever You Are“ brauchen sich nicht hinter dem Material der letzten Alben zu verstecken. Dennoch kommt es mir so vor, als wären der Band im Studio an der einen oder anderen Stelle die Ideen ausgegangen, so dass man den einfachsten und unaufwendigsten Weg gegangen ist, vielleicht sogar altes Material aufgebohrt hat – „Faith“ beispielsweise ist noch aus „Marbles“-Zeiten. All das hört man dem Endergebnis an.

Die musikalische Klasse und das Können blitzt dennoch mehr als einmal auf, weshalb ich das Album einfach nicht völlig in die unteren Punkteklassen absinken lassen kann. Ich weiß manchmal selber nicht, ob ich es lieben oder hassen soll und bin mir sehr unschlüssig. Ich schrieb oben, dass die ersten Hördurchgänge sehr ernüchternd waren. Jetzt finde ich das Album an sich schon annehmbarer, es scheint also ein Stück weit ein Grower zu sein. Vielleicht sehe ich aber auch das verbindende Element hinter den Songs nicht, vielleicht muss ich mir „Somewhere Else“ noch weiter erarbeiten. Ich kann es nicht klar sagen, hoffe, dass es mich bald vielleicht doch noch als Gesamtwerk überzeugen kann, weil ich vielleicht ein geniales Detail übersehen habe. Ich würde es mir wünschen.

Als ein schönes Schlusswort empfinde ich einen Kommentar von Gitarrist Steve Rothery bezüglich des neuen Albums: Er sagte in einem Interview, „Somewhere Else“ sei Musik zum Bügeln. Mal ehrlich: Hat eine Band, die für Kopfkino allererster Güte wie „Brave“ und für zeitlose Balladen wie „Easter“ oder „Afraid Of Sunlight“ steht, einen solchen Kommentar nötig? „Somewhere Else“ verpasst in großen Teilen sein Ziel – oder die Band möchte demnächst nur noch in Bügelzimmern von alten Damen gehört werden.

Wertung: 7 / 10

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