Zumeist gründen Musiker ein Nebenprojekt, um dort Ideen zu verwirklichen, welche in ihrer Hauptband stilistisch oder konzeptionell keinen Platz haben. Was immer der Grundgedanke hinter der Gründung von MARIENBAD war – dieser war es gewiss nicht, ist das, was M. Roth und Yantit von Eisregen hier abliefern, doch alles in allem dem Konzept hinter Eisregen nicht unähnlich:
So finden sich auf dem Album acht Nummern, welche die Gründung eines neuen Projektes eigentlich nicht unbedingt nötig gemacht hätten: Düster, schleppend und von Zeit zu Zeit von einer netten Melodie durchsetzt, wirkt das Material wohl gerade wegen M. Roths sehr charakteristischer Stimme eher wie ein neues Eisregen-Album denn wie eine eigenständige Band. Wo jedoch gerade auf den letzten Eisregen-Alben ja nicht eben bei jedem Track Hitgarantie gegeben war, sieht es hier anders aus: Sowohl musikalisch als auch, durch das recht eng abgesteckte textliche Konzept begünstigt, inhaltlich vermittelt „Werk 1: Nachtfall“ intensiver denn alle Eisregen-Alben der letzten Jahre die für die Band charakteristische morbide Atmosphäre.
Thematisch befasst sich das Werk dabei mit der Stadt Marienbad im ehemaligen Sudetenland, heutigen Tschechien, welches nach Zwangsumsiedlung der Bewohner Anfang der 60er Jahre einem Stausee weichen musste. Die letzten zwölf Bewohner weigerten sich, zu weichen, und begingen Selbstmord – der Mythos Marienbad war begründet. Neben dem diese konkrete Thematik behandelnden „Wasserwall“ erzählen auch die anderen Songs Gruselgeschichten rund um den versunkenen Ort – von Roslins Fluch, den sieben Kindern, die bei der großen Sonnenfinsternis unten am Teich spielten, der gelben Villa der Selbstmörder und dem Gefangenenzug, der dort Ende ´44 die Nacht verbrachte…
Was „Werk 1: Nachtfall“ den letzten Eisregen-Werken dabei deutlich vorraus hat, ist, dass auf gar zu plakative Platitüden, ad absurdum geführte Gewaltdarstellung a la „19 Nägel für Sophie“ oder den Eisregen-typischen, bisweilen arg flachen (schwarzen) Humor quasi gänzlich verzichtet wird. Statt dessen setzen MARIENBAD auf zwar nicht weniger schaurige, jedoch dabei weit weniger markabere Geschichten, die zumindest nicht von vorneherein dafür prädestiniert sind, auf dem Index zu landen. Auch musikalisch wirkt das Album weit vielschichtiger und liebevoller ausarrangiert, um nicht zu sagen: erwachsener als alles, was man von den Herren Roth und Yantit bislang so zu hören bekommen hat, und lassen dabei von ihrem Charakter her fast eher an Alben wie Lifelover’s „Sjukdom“ denken (Beispiel: „Flammennacht“) denn an die bisweilen arg primitiven Kompositionen aus dem Hause Eisregen.
Interessant, wenn auch zumindest aus Sicht eines deutschen Muttersprachlers nicht wirklich reizvoll ist das Prinzip der Bilingualität: So erscheint das Album als Doppel-CD, wobei der zweite Silberling das Werk mit auf Englisch eingesungenen Vokals versehen enthält.Zwar ist es durchaus eine interessante Erfahrung, M. Roth einmal nicht auf Deutsch singen zu hören, und für den internationalen Markt sicherlich von Vorteil, wenn alle Fans die Texte erfassen können – für den deutschen Muttersprachler gewinnen die Songs durch diesen Kniff jedoch ehrlichgesagt nichts dazu.
Mit „Werk 1: Nachtfall“ dürften MARIENBAD viele überraschen, die die Band ob ihrer Verwandschaft zu den oft als Kiddy-Band verschrienen Eisregen nicht für voll nehmen – so sie dem Projekt denn überhaupt eine Chance geben.
Wer sich jedoch auf MARIENBAD einlässt, wird „Werk 1: Nachtfall“ als rundes, atmosphärisch dichtes Werk kennenlernen, welches nicht zuletzt ob des charakteristischen Gesangs von M.Roth natürlich an Eisregen erinnert, vom gesamten Konzept her jedoch deutlich weniger überspitzt aufgezogen ist. Mit anderen Worten: Als Eisregen für Erwachsene.
Wertung: 9 / 10