Pop mit Gitarre… Das ist eine Beschreibung, die ein Freund von mir hin und wieder für ganz besonders zahnlose Power Metal Bands anwandte. Stratovarius zum Beispiel. Oder etwas ungerechtfertigterweise auch Evergrey, aber egal, das ist hier nicht der Punkt der Expoisiton, der zielt nämlich eher darauf ab, dass es doch einige Power Metal Bands da draußen gibt, die – hätten sie keine verzerrten Gitarren mit im Soundbild drin – sich doch genau so gut in die Playlisten diverser Radiosender einreihen könnten. Etwas in der Art schoss mir schon durch den Kopf, als ich zum ersten Mal von LUNATICA, einer 1998 in der Schweiz gegründeten Band, laß. Als „Atmospheric Melodic Gothic Metal“ stempelten die Metal Archives sie ab, dass das „Gothic“ mal wieder daher kommt, dass hier eine Frau am Mikro steht, dürfte ja eh schon ziemlich klar sein (ich versteh’s nicht, echt nicht… und werd’s wohl auch nie verstehen), bleibt also noch „Atmospheric Melodic Metal“. Ach, bleiben wir doch lieber bei „Pop mit Gitarre“.
Diese Beschreibung trifft auf „New Shores“, die bereits vierte Scheibe des illustren Sechsers aus unserem südlichen Nachbarland (bin ich dankbar, dass Sängerin Andrea Dätwyler keinen ausgeprägten schweizerischen Akzent hat, ich hätte wohl wirklich am Rad gedreht, wäre das so gewesen), wohl besser zu, als auf jeden anderen Output irgend einer mir bekannten Band und das sind nicht gerade wenige. Eindrucksvoller als jede andere Kapelle schaffen die Schweizer es nämlich zu beweisen, dass zwischen Heavy Metal und Massenkompatiblerer Musik gar kein so großer Unterschied bestehen muss. Und – und das ist wohl das noch viel bewundernswertere – außerdem zeigen sie uns, dass eher gemäßigte Musik absolut nicht schlecht sein muss.
Am Anfang der CD geht’s sogar noch erstaunlich heftig zur Sache (im Kontext des Gesamtsounds, versteht sich, es sollte jetzt bloß keiner hier Anaal Nathrakh-mäßige Ausmaße erwarten oder was weiß ich). Der Opener und Titeltrack in Personalunion setzt mit bollernder Double-Bassdrum ein und sofort lässt die Produktion der Scheibe ihre Muskeln spielen. Das Schlagzeug ist verdammt wuchtig geraten, der Bass wummert gut, die teilweise recht groß aufgezogenen Orchesterarrangements machen auch einen guten Eindruck und die Gitarre, die sich zwar die meiste Zeit über nur mit Palm Mute Powerchords vergnügen darf, klingt auch sehr nett. Hier passt alles zusammen, der Song geht gut ins Ohr und hat einen netten Mitsingrefrain (ein Motiv, das sich – wer hätte es gedacht – durch die ganze CD zieht) und lässt eigentlich absolut keine Wünsche übrig. Auch Andrea Dätwylers (wie gesagt glücklicherweise akzentfreier) Gesang ist eine Wonne, die Frau kann’s einfach.
Auch „Two Dreamers“ schlägt in eine ähnliche Kerbe, zumindest bis die erste Strophe anfängt… Da spüre ich dann nämlich auch schon, wie sich im Sekundentakt Karies in meinen Zahnreihen bildet, so unglaublich kitschig wurde hier getextet. Für den einen oder anderen Schmünzler ist das wohl gut, aber allgemein ist der Song einfach zu unansprechend, denn für einen Lovesong wird hier viel zu individuell gekocht und zu nichtssagend gleichzeitig. Ich habe nämlich keinen Schimmer, an wen das Ding gerichtet ist, aber es ist einfach viel zu „speziell“, um einfach nur ein „generischer Lovesong“ zu sein. Immerhin kann die Gitarre sich hier zum ersten Mal mit einem sehr schnieken Solo hervortun, das zwar technisch nur auf leicht überdurchschnittlichem Niveau angesiedelt ist, aber doch melodisch einiges her macht.
Danach leisten LUNATICA sich zum Glück keine groben Patzer mehr, der Weltverbesseretext von „The Incredibles“ ist zwar auch nicht ganz das Gelbe vom Ei, aber immerhin nicht ganz so grausam wie der von „Two Dreamers“. „The Day the Falcon Dies“ ist sogar richtig gut, ein extrem ansprechender – wenn auch relativ gewöhnlicher – Power Metal Song, der thematisch Bezug auf den Richard Donner-Klassiker „Ladyhawke“ (zu Deutsch „Der Tag des Falken“) nimmt. Nachdem mit dem Song aber so ungefähr Halbzeit ist, da wird auch schon das Phänomen aufgefahren, das ich in der Einleitung beschrieb: Pop mit Gitarre. Oder manchmal auch ohne…
Mit „Farewell My Love“ verabschieden die Jungs und das Mädel aus Suhr sich nämlich quasi vollständig vom Power Metal, oder sagen wir mal vom Metal allgemein, ab sofort wird absolut radiotaugliche Popmusik gespielt mit netten Gesangslinien, teilweise recht groß aufgezogenen Keyboardarrangements und ganz selten noch einer Gitarre (die noch viel seltener überhaupt auf Distortion gestellt wurde und am Allerseltensten ein Solo spielen darf). Genrepuristen werden mich jetzt wohl dafür würgen, aber es klingt einfach gut. Die Musik von LUNATICA erfindet zwar das Rad nicht neu (keines der zahlreichen Räder, die sie hier benutzen), aber sie geht gut ins Ohr und setzt sich fest, Mitsingrefrains inklusive, alles nett hier. „My Hardest Walk“ und „How Did It Come To This“, die beiden „krachigeren“ Songs der Pophälfte des Albums sind sogar richtig richtig nette Musik, muss man schon sagen, bei „Winds of Heaven“ wird’s allerdings etwas lahmer, man kann den Song trotzdem noch mögen.
Allerdings macht „New Shores“ damit einen etwas zerrissenen Eindruck, der Schnitt zwischen der symphonischen Power Metal Hälfte und den Popsongs kommt zu sauber, zu klinisch, zu abrupt, als dass man bei dem Album von einer Homogenen Erscheinung sprechen könnte, hier beißen sich die einzelnen Komponenten leider ein bißchen. Auch geht dem Album gegen Ende ein wenig die Luft aus, „How Did It Come To This“ ist wie gesagt ein netter Song, aber ich hätte mir eher ein Finale Furioso gewünscht (obwohl ich jetzt im Internet irgend etwas von einem Fehler in der Trackliste gelesen habe, aber sicher ist da niex). Kann man nix machen, „New Shores“, die vierte CD von LUNATICA, ist was sie ist: Ein sauberes, eingängiges, spaßiges Pop Metal Album, das allen Freunden dieser Richtung viel Freude bereiten dürfte.
Nachtrag: Das alles hier bezieht sich auf den „Lieferumfang“ der Promo-CD, die leider Gottes mit einer verkehrten Trackliste versehen wurde. Aus rein technischen Gründen kann ich jetzt nicht sagen, inwiefern die „tatsächliche“ Tracklist der CD dem Album zum Vor- oder Nachteil gereicht, ich wage zu behaupten, dass der etwas zerrissene Charakter auf gewisse Weise kaschiert werden könnte, aber sicher bin ich nicht. An der Gesamtpunktzahl wird das aber wahrscheinlich nichts ändern.
Wertung: 7.5 / 10