Nach starker Kritik an den letzten Alben der norwegischen Ex-Theatre-Of-Tragedy-Prinzessin LIV KRISTINE, die sich mit ihrem gleichnamigen Soloprojekt immer weiter in die Abgründe der Popmusik verabschiedete, scheint mit der neusten Platte „Vervain“ ein plötzlicher Wandel stattgefunden zu haben, der die blonde Skandinavierin mit der elfengleichen Stimme in die Welt des sanften Gothic und Symphonic Rocks zurückgeholt hat. So wirkt es zumindest, hört man in die ersten paar Titel hinein. Doch was hat der Rest der Scheibe zu bieten?
Mit „My Wilderness“ ist LIV KRISTINE ein überzeugender Einstieg gelungen: Ihr Gesang sticht wie gewohnt ganz besonders positiv heraus, der Schlagzeuger leistet auffallend gute Arbeit und auch die Song-Strukturen sind akzeptabel, auch wenn immer noch leichte Pop-Linien hörbar sind, die das Gesamtbild zu stören wissen.
Spätestens wenn der zweite Song ertönt, wird der Hörer von einer Welle der Euphorie erfasst: Das Stück „Love Decay“ ist ein Duett mit dem Herrn des Düsteren, Michelle Darkness, dem Sänger der deutschen Rockband End Of Green. Der Gesang der beiden Musiker könnte nicht unterschiedlicher sein. Trotzdem ergänzen sich ihre Stimmen auf eine glanzvolle Weise, die gleichzeitig die finstere Thematik des Songs atmosphärisch widerspiegelt. „Love Decay“ ist durchweg das Highlight des Albums. LIV KRISTINE spart nicht an Gastmusikern und bittet gleich noch eine zweite bekannte Persönlichkeit um Unterstützung. Doro Pesch sorgt für geballte Frauenpower im Duett „Stronghold Of Angels“.
Als ein weiteres Herzstück kristallisiert sich „Lotus“ heraus, eine Ballade, die durch den klagenden Gesang der blonden Künstlerin kaum gefühlvoller und bewegender sein könnte. Der Einstieg wird allein vom Klavier begleitet, dessen Töne die depressive Stimmung des Songs optimal untermalen. Die krachenden Gitarren, die das Klavier im Laufe des Titels ablösen, sind ein exzellenter Abschluss …
… der sich bestmöglich auf das komplette Album hätte beziehen sollen. Leider sind nach „Lotus“ noch vier weitere Lieder zu finden, die all die Begeisterung, die sich bisher angesammelt hat, fast vollständig zunichtemachen. Zwischen massig Pop- und Elektroeinflüssen, die in das bisherige Konzept von „Vervain“ einfach nicht passen, ungeeigneten Hauchereien, die mehr an Techno erinnern als an Gothic Rock, und Melodien, die nicht das kleinste Bisschen eingängig scheinen, gehen Gefühl und Können beinahe lückenlos unter. Stilübergreifende Musik mag teils sehr ansprechend sein, insofern sie gut gemacht ist. LIV KRISTINE scheint das richtige Händchen dafür leider noch nicht gefunden zu haben, was sich beispielsweise im Titel „Elucidation“ deutlich zeigt.
Schade: Es hätte doch so schön sein können. Wer „Vervain“ zum Weihnachtsfest unter dem Tannenbaum findet, darf sich dort mit gemischten Gefühlen herantasten. Fans der früheren Musik der Skandinavierin und Neulinge im Bereich LIV KRISTINE dürfen sich immerhin über eine gute Hälfte des Albums freuen, die mit Sicherheit Gefallen finden wird. Der zweite Teil der Platte darf heimlich weggeschaltet und verschwiegen werden.
Wertung: 6.5 / 10