Review Lingua Ignota – Caligula

(Neoklassik / Noise / Spiritual) Der Mythos, wonach große Kunst stets großem Leid entspringt, ist sicherlich diskutabel. Wenn es jedoch einen Menschen gibt, der als das Körnchen Wahrheit in dieser romantisierten Vorstellung angesehen werden kann, dann ist es Kristin Hayter alias LINGUA IGNOTA. Nachdem die Amerikanerin jahrelang von ihrem Partner, einem einflussreichen Noise-Künstler, physisch und psychisch misshandelt worden war, entschied sich die klassisch ausgebildete Multi-Instrumentalistin dazu, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie die Waffen ihres Peinigers zu den ihren machte – zumindest in verbaler und klanglicher Hinsicht. Das Ergebnis trug den bewusst misogyn anklingenden Titel „All Bitches Die“, ein zwischen Klassik, Spiritual und Noise rangierendes Album von tieftrauriger Schönheit und furchteinflößender Schwärze, wie sie selbst die böseste Black-Metal-Band nicht zu evozieren vermag.

Von da an war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis LINGUA IGNOTA die Aufmerksamkeit der Musikwelt auf sich ziehen würde. Dies scheint ihr mit dem im Juli 2019 erschienenen Nachfolgealbum „Caligula“ tatsächlich gelungen zu sein. Die Platte wurde von der Fachpresse umjubelt – und das vollkommen zu Recht. Dass sich die Musik von LINGUA IGNOTA in den zwei Jahren seit „All Bitches Die“ verändert hat und doch nach wie vor radikal persönlich ist, ergibt sich bereits aus dem Coverbild, welches abermals Hayter selbst im Portrait zeigt: nicht mehr ganz so mitgenommen, mit resoluterem Blick als auf dem Vorgänger, jedoch mit einem subtil beunruhigenden blauen Fleck auf den Lippen.

Mit ihrer Vergangenheit hat die Solokünstlerin offensichtlich noch nicht abgeschlossen, wie insbesondere aus den Texten hervorgeht, in welchen LINGUA IGNOTA religiöse Bildsprache („Faithful Servant Friend Of Christ“) mit schockierenden Gewaltmotiven („If The Poison Won‘t Take You My Dogs Will“) verbindet. Der beißende, lyrische Kontrast spiegelt sich auf „Caligula“ jedoch auch in der Musik wider. Im Zentrum der Instrumentierung, die unter anderem verstörende Noise-Anstürme, geschmeidige Streicher, geschmackvolles Barock-Cembalo („I Am The Beast“) und bombastische Perkussionen umfasst, steht unzweifelhaft das Klavier. Mögen es mitunter auch nur verhältnismäßig wenige Noten sein, die LINGUA IGNOTA darauf spielt, so sagen diese doch unfassbar viel aus. Auf „Fragrant Is My Many Flowered Crown“ etwa fühlt man sich trostspendend umarmt, die tief grollenden Töne auf „Spite Alone Holds Me Aloft“ könnten hingegen kaum bedrohlicher sein.

Die größte nervliche Zerreißprobe stellt jedoch Hayters expressive Gesangsperformance dar. Obwohl die Ausnahmemusikerin über eine immense Stimmgewalt und -beherrschung verfügt, sind es gerade die Momente, in denen sie über ihre eigene Kontrolle hinausgeht und ihre Emotionen auf die hässlichste Weise aus sich hervorbrechen lässt, die besonders nahegehen. Beinahe vermag man ihren Schmerz am eigenen Leib zu spüren, wenn sie auf „Do You Doubt Me Traitor“ atemlos schreit: „I don’t eat / I don’t sleep / I don’t eat / I let it consume me“ oder auf „Butcher Of The World“ mit ihren gemarterten, unmenschlich verzerrten Screams zu den bedrückenden Bläsern aus Henry Purcells Trauermusik für Queen Mary die ganze Welt zu Grabe trägt.

LINGUA IGNOTA predigt auf ihrem Durchbruchsalbum keine Vergebung und gibt auch keine Antwort auf die Frage, wie man das Trauma körperlichen und geistigen Missbrauchs überwinden kann. Eher das Gegenteil ist der Fall: „Caligula“ ist Qual, Zorn, Resignation – und genau deshalb eines der wichtigsten Alben der letzten Jahre. Weil es nichts an den Hintergründen von LINGUA IGNOTA verklärt oder beschönigt. Weil es in seiner aufrichtigen, elendigen Ausweglosigkeit und unverblümten Unversöhnlichkeit ein Stück Verständnis für etwas schafft, das Nichtbetroffene vermutlich niemals ganz nachvollziehen können. Und weil es das abscheulichste Neoklassikalbum und zugleich die beseelteste Noise-Platte seit „All Bitches Die“ ist.

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Wertung: 9 / 10

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