„Red“ entstand, für KING CRIMSON zu dieser Zeit nicht unbedingt selbstverständlich, aus einem relativ stabilen Line-Up heraus. Tatsächlich wurde seit „Lark’s Tongues In Aspic“ nur Violinist David Cross rausgeworfen (Jamie Muir ging von sich aus), laut Robert Fripp aus dem Grund, dass die Geige im heftigeren Soundgewand „Red“s keinen Platz mehr gehabt hätte. So ist Cross also nur noch auf der Improvisation „Providence“ zu hören, die noch ein Relikt aus der Zeit mit ihm als festem Bandmitglied darstellt. „Red“ wird in Kritikerkreisen gerne als bestes der frühen KING CRIMSON-Werke gehandelt – bei abermals einem Albenumfang, der über die 5-Song-Marke nicht hinauskommt.
Unabhängig von seiner Qualität muss das 74er Album in jedem Fall als düsterstes, bösestes Werk dieser KING CRIMSON-Phase, und wahrscheinlich auch überhaupt eingestuft werden. „Lizard“ mag skurriler sein, „Larks‘ Tongues in Aspic“ abnormer und verschrobener und „In the Court of the Crimson King“ phantastischer – die Unbarmherzigkeit von „Red“ haben sie alle nicht. Dies kann man für mindestens drei der fünf Songs geltend machen: Die unergründliche, pechschwarze Improvisation „Providence“ (eben mit Cross an der Geige), das nicht weniger finstere Instrumental „Red“ und das daran angelehnte „One More Red Nightmare“, bei welchem man meint, eine Perversion diverser Elemente des massentauglichen Rock vor sich zu haben: Heftige, ins Ohr gehende Riffs, die rhythmisch aber alles andere als zum Tanzen einladen, schräge Saxophon-Soli und Handclapping, das in der verstörenden Atmosphäre dieses Songs vollkommen fehl am Platz wirkt (indes für dessen Wirkung aber keinesfalls unpassend).
Auf der anderen Seite stehen als melodischere Komponente des Albums „Fallen Angel“ und „Starless“ (wenigstens teilweise). Ersterer ist ein trauriger, versöhnlich-rückblickender Rocksong, der von John Wetton getragen wird, welcher mit ergreifender Intonation persönlich wirkende Verse darbietet, die in ihrer Gesamtheit die beste gesangliche Leistung auf diesem Album darstellt. Neben ihm sind es die Bläser, welche „Fallen Angel“ zu einem echten Juwel im diamantenreichen Backkatalog KING CRIMSONs machen: Während der Strophen wenn überhaupt vorhanden im Hintergrund, wirken ihre Einsätze in den Refrains und den folgenden Bridges majestätisch und unantastbar und erweitern den Song um eine sehr stolze Facette.
Nach diesem persönlichen, textlich sehr realistischen Song bleibt also nur noch „Starless“ zu besprechen. Man spielt es an und denkt sich: Die ersten Minuten sind in etwa das, was dabei herauskäme, wenn der Vater, der Sohn und der Heilige Geist eine Rockkapelle gründeten. Eigentlich unbeschreiblich.
Ergreifend und schicksalhaft beginnt der Song mit ruhigem Mellotron und einer Gitarre, die verhalten die Melodie spielt, die die genannten Assoziationen hervorruft. Und spätestens wenn John Wetton mit gedämpfter, rauer Stimme beginnt zu singen, hat man das Gefühl, an einem der wirklich großen Momente der jüngeren Musikgeschichte teilzuhaben. Ein Effekt, wie bei mir ähnlich bei Queens „The Show Must Go On“ vorhanden, wobei „Starless“ wohl dessen nachdenklicher Bruder wäre. In emotionaler Hinsicht setzen sich KING CRIMSON mit dem ersten Abschnitt dieses Songs ein Denkmal – Und entlassen einen dann ins Ungewisse. Das Saxophon setzt aus, ein tastender, zögerlicher Bass windet sich um die monoton immer einen einzigen Ton spielende Gitarre. Der Sound wird durchzogen von Schlagzeugwirbeln, die wie schneidene Winde ins Ohr fahren. Schließlich meldet sich das Schlagzeug auch gleichberechtigt zurück und der Sound schwillt langsam aber sicher an. Das Bewusstsein, dass sich irgendwas bewegen muss, dass kaum vermeidbar ein Ausbruch am Schluss dieses Parts steht (aber nicht eintritt), baut eine riesige Spannung auf, die sich schließlich in ein ein äußerst zerfahrenes Saxophon-Solo entlädt, dass Wetton in bester „Larks‘ Tongues In Aspic“-Manier mit kräftigen, pumpenden Läufen unterlegt. Nach dieser Strecke an Ungewissheit und Verlorenheit ist das folgende Zitat des Gitarren-Themas vom Auftakt eine echte Wohltat, die aber wiederum durch nervöse Sequenzen zunichte gemacht wird, die sich durch gewaltig herumspinnende Performances an Schlagzeug, Bass und Gitarre auszeichnen. Die in angezogener Geschwindigkeit erneute Reprise der anfänglichen Melodien schließt schließlich den Kreis und entlässt den Hörer aus dem Song.
„Red“ ist ein Album, das im Prinzip zwar schon aufs erste Hören mitreißt, die eigentliche Genialität aber in den Details sowie seinem Aufbau entfaltet, die man erst voll erfasst, wenn das Album wirklich schon ein paar mal rotiert ist. Das aufbauende, verdrießliche Red, das die finstere Seite des Albums einleitet, dann das unschuldige „Fallen Angel“ gefolgt von „One More Red Nightmare“, das durch die einserseits heftigen Riffs, andererseits aber cleanen Vocals von Wetton gewissermaßen einen Schnittpunkt zwischen beidem darstellt. „Providence“ geht dann wieder völlig unerbittlich auf die Psyche, worauf „Starless“ erst den schönsten Moment des Albums darstellt, den Hörer dann aber wieder auf Messers Schneide schickt und so ebenfalls keinen reinen Song der „hellen“ Seite darstellt.
Zum aktuellen Zeitpunkt würde ich „Red“ wohl auf eine Stufe mit „In The Court Of The Crimson King“ und „Islands“ stellen, aber da man auf allen KING CRIMSON-Alben nie aufhört, neue Details und Zusammenhänge zu entdecken, ändert sich das ständig. Fest steht aber, dass man an „Red“ schlicht und ergreifend keine Mängel findet und es somit einen der vielen Pflichtkäufe darstellt, die es im Katalog der Briten zu tätigen gilt – Auf seine eingangs erwähnte, radikal-realistische Weise eben.
Wertung: 10 / 10