In unserem gewohnten Musikkonsum verfallen wir oftmals ähnlichen Mustern: wir hören seit Jahrzehnten immer wieder die gleichen Bands und vor allem die gleichen alten Songs, weil diese in der Natur der Sache häufig stärkere Erinnerungen auslösen als eine Platte vom vergangenen Jahr. Ein fantastisches Konzert mit den ersten Live-Darbietungen des 2002er Albums, ein wilder Festival-Abriss im Starkregen oder die intim anmutende Clubshow einer Band zum damaligen Album-Release, die dieser Location inzwischen entwachsen wäre. All das sind wohlige Gedanken, die mit der Zeit noch größer wurden. In der Folge halten wir Ausschau nach Bands, die jenen ähneln, die wir ohnehin schon ewig hören und finden uns in einer Spirale wieder, die am Ende durchaus neue Einflüsse, aber insgesamt häufig wenig neue Erkenntnisse hervorbringt. Anders als in vielen anderen Bereichen des Lebens funktioniert es in der Musik doch äußerst gut, sich in der Vergangenheit zu bewegen.
Doch zwischendurch kommen hin und wieder noch diese äußerst rar gesäten „Nischenbands“ ins Spiel. Bands, die einen unverkennbar eigenen Stil haben und sich nur schwerlich mit etwas Vorhandenem vergleichen lassen. Ein sehr prominentes Beispiel dafür ist etwa Gojira. Als ein weiteres kann man zweifelsohne KARDASHEV nennen. Das US-amerikanische Quartett schreibt sich dem wohl selbsterfundenen Deathgaze zu, einer spannenden Mischung aus schweren Death- und garstigen Black-Metal-Anteilen gepaart mit verträumten und wunderschönen Post-Metal-Harmonien.
KARDASHEV haben sich bereits 2012 gefunden und veröffentlichen zehn Jahre später mit „Liminal Rite“ nun ihren zweiten Langspieler. Dieser folgt auf den Achtungserfolg „The Baring Of Shadows“, einer EP, die ein Jahr nach der Eigenveröffentlichung und dem Landen eines Majorlabel-Deals über Metal Blade neuveröffentlicht wurde, was der Vier-Track-EP ein wesentlich größeres Publikum offenbarte.
„Liminal Rite“ behandelt, die Einleitung begründend, das permanente bis krankhafte Abtauchen in die Vergangenheit. Jedoch auf einer weit tiefergreifenden Ebene als dem Hören alter Musik. Die Texte von Mark Garrett verarbeiten Fürchte, im Früher gefesselt, von Nostalgie besessen zu sein. Das Gefühl, dass man sich früher stets in Sicherheit wähnte, während die Gegenwart ungewiss und chaotisch ist.
„The Approaching Of Atonement“ führt uns ins Album ein, mit andächtiger Hintergrundmusik und einem verheißungsvollen Sprachintro. Einem Intro, das in Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit zweier tief verbundener Menschen schwelgt. Ohne jedoch zu verraten, was in der Zwischenzeit passiert ist. Die bedrückende Art, wie dieses Intro gesprochen wird, ist für sich schon sehr bemerkenswert. Umso besonderer macht es aber die Tatsache, dass dies nicht das Werk eines professionellen Speakers ist, sondern zunächst der Feder und dann der Stimme von Schlagzeuger Sean Lang entstammt. Dieser philosophische Exkurs erstreckt sich noch über das Zwischenstück „The Blinding Threshold“ und endet zum Schluss des letzten Titels „Beyond The Passage Of Embers“. Die Geschichte behandelt den titelgebenden Schwellenzustand der Bewusstseinsveränderung. In dieser Liminalität besitzt man Erkenntnissen des Ethnologen Victor Turner zufolge weder Eigenschaften des vergangenen Zustandes, noch des zukünftigen. Es geht im Speziellen um kommende, fortschreitende bis fortgeschrittene Demenz, die aus der Sicht eines fiktiven Mannes in dessen späten Leben erzählt wird. Um die traurige Erkenntnis, dass Erinnerungen schwinden und es nichts gibt, um das aufzuhalten. An dieser Stelle ein ganz herzlicher Dank an Gitarrist Nico Mirolla für die Übermittlung des kompletten Skripts!
Und so interessant wie das nicht nur in der Idee, sondern vor allem auch in der Umsetzung ist, hat „Liminal Rite“ noch unglaublich viel mehr zu bieten als dieses wirklich kreative, mehrteilige Zwischenspiel in Form einer Erzählung. Schon auf dem ersten dann musikalischen Stück, „Silvered Shadows“, offenbaren KARDASHEV, was an ihnen so verflixt besonders ist: die Truppe aus Arizona versteht es, Musik zu schaffen, die für sich bereits von enorm großer Qualität ist, doch letztendlich ist es die dichte Atmosphäre, in die es der Band gelingt, jeden einzelnen Song zu hüllen.
Dafür braucht es herausragende Musiker und die Veredelung der Stücke durch außergewöhnlichen Gesang. Den liefert Mark Garrett, seines Zeichens Coach für Metalgesang, übrigens mit einem superben Youtube-Kanal. Und den liefert Garrett mit einem Talent, das schier nicht von dieser Welt ist. Wie der Künstler selbst sagt, macht er sich erst dann an die Texte, wenn ein Song geschrieben ist. Er sieht sich in einer unterstützenden Rolle für die schon davor höchst emotionalen Songs. An welcher Stelle er dann zwischen träumerisch und zerbrechlich singt, oder sich an verschiedenen Stilen des Extrem-Metals bedient, entscheidet er jeweils aus dem Bauch heraus.
Auf dieses Bauchgefühl ist stets Verlass, zeugen alle KARDASHEV-Songs, nicht nur auf dem vorliegenden Album, von einem sehr feinen Gespür was die angewandten Gesangsstile betrifft. Mit hübscher Regelmäßigkeit werden auch verschiedene Spuren übereinandergelegt, so dass vordergründig Klargesang hörbar ist, im Hintergrund jedoch kräftige Growls oder Screams unterstützend zur Geltung kommen.
Eine große Konstante im Soundgewand KARDASHEVs ist auch das brutal traktierte Schlagzeug. Fortwährender Blastbeat und unzählige Doublebass-Passagen lassen die Hütte beinahe permanent beben und doch klingt es niemals einseitig, ganz im Gegenteil. Bei aggressiven Parts versteht es sich noch von selbst, aber besonders gut kommt das Black-Metal-artige Drumming tatsächlich in ansonsten eher ruhigen Momenten zur Geltung. Das sind ohnehin die Momente, um die es bei KARDASHEV geht: wenn die Instrumente gezügelt werden, Garrett seinen schönsten Gesang singt, aber das Schlagzeug unter Volllast fährt. Beispielhaft seien hier neben „Silvered Shadows“ noch „Lavender Calligraphy“ oder der „Compost Grave-song“ genannt: zauberhafter Klargesang im Wechsel mit tiefem gutturalen, begleitet von sanftem Gitarrenspiel, wunderschönen Melodien und eben, na klar, antreibendem Doublebass-Gewitter.
Die Songs sollen an dieser Stelle im Einzelnen gar nicht groß umschrieben werden, die wirken allesamt für sich. Das gesamte Konzept dieses Albums ist bärenstark und wächst dabei noch mit jedem weiteren Durchgang. Schade ist es, dass KARDESHEV offenbar nie als Liveband vorgesehen war. In der aktuellen Besetzung, die immerhin schon drei Jahre beisammen ist, befand man sich dem Pressezettel zufolge zu den jüngsten Aufnahmen überhaupt das erste Mal gemeinsam in einem Raum. Es wäre aber auch ein schwieriges Unterfangen, insbesondere den auf Platte mehrschichtigen Gesang könnte man auf der Bühne bestenfalls vom Band realisieren. Den Veröffentlichungen dieser begnadeten Musiker tut das freilich keinen Abbruch. Wer KARDASHEV noch nicht kennt, ist herzlich dazu eingeladen, dass mit diesem großartigen Werk zu ändern. Es ist keine Seltenheit, dass Leute im Internet schreiben, KARDASHEV wäre ihre größte Entdeckung in den letzten Jahren. Man wünscht den Amerikanern, dass Metal Blade sie weit nach vorne bringt und man noch viel von dieser sympathischen Truppe hören wird. Mit „Liminal Rite“ ist ihnen ein Meisterwerk gelungen!
Wertung: 9 / 10