Review IQ – Dark Matter

„Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Wenn es nach den meisten Kritikern ginge, wäre das Genre des Neo-Prog schon seit dem Ende der Fish-Ära von Marillion tot oder hätte nie gelebt. Zum schon nicht gerade erdrückend reichhaltigen Output des Genres kommt erschwerend hinzu, dass viele der federführenden Bands im Laufe der letzten Jahre auf arge Probleme gestoßen sind. Pendragon zogen es vor, ihre Anhängerschaft mit zwanzig Jahre alten Achtspur-Aufnahmen aus der Mottenkiste zu beglücken, anstatt ein neues Album einzuspielen (welches aber ohnedies wohl wieder ein Aufguss von „The World“ geworden wäre), während Marillion ihre letzte Platte nur über ihre Website vertrieben und sich zwischendurch Privatkriege mit Musikjournalisten lieferten.

Einzig Arena und die Spätzünder IQ ließen sich nie auf solche Mätzchen ein, sondern hielten und halten standhaft die Flagge dieses von den übermächtigen Vorbildern Genesis aus der Taufe gehobenen Stils hoch… auch wenn die ganz großen Überraschungen und Erfolge so stets ausblieben. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf kann man beruhigt an „Dark Matter“, das neueste und insgesamt achte Studioopus der fünf Gentlemen um Martin Orford herangehen – dass es die Welt des Progressive Rock aus den Angeln hebt, hätte wahrscheinlich sowieso niemand erwartet.
Auch im Jahre 2004, zwei Jahrzente nach dem offiziellen Debüt „Tales from the Lush Attic“, baut die Musik von IQ vornehmlich auf harmonisch-stimmungsvolle Keyboardarrangements mit dem richtigen Maß an einprägsamen Melodien, für härtere Gemüter spärlich erscheinende, aber sehr fein akzentuierte Gitarreneinsätze und den ausdrucksstarken Gesang von Frontmann Peter Nicholls. Die Suche nach wirren Shred-Parts, epileptischen Taktwechseln und ähnlichen Prog-Klischees des 21. Jahrhunderts verläuft völlig ergebnislos. Dass die fünf Songs des absolut klassisch aufgebauten Albums (zwei Longtracks im XL- und XXL-Format bilden den Rahmen, den dann drei kürzere Kompositionen ausfüllen) allerdings nur den Geist von „Watcher of the Skies“ und „Firth of Fifth“ heraufbeschwören würden, stimmt allerdings auch nicht ganz, denn die beiden Epen beherbergen einige erstaunlich schnelle, hochenergetische Parts, die man den sonst so besonnenen Briten nicht unbedingt zugetraut hätte, die aber ihre handwerklichen Fähigkeiten schön unterstreichen, ohne sie zu einer Freakshow zu machen.
Besonders gut in diesen gefällt mir das Rhythmusgespann aus John Jowitt am Tieftöner und Paul Cook am Schlagzeug, die neben dem üblichen sanft-melodischen Spiel wirklich knackige Grooves aufbauen und beeindruckend gut miteinander funktionieren. Den eigentlichen Mittelpunkt der Band markiert wie eh und je Keyboarder Martin Orford mit seinen in Sachen Melodie unerreichten Orgel- und Mellotron-Wänden und Moog-Soli (die ihm auch einen Platz in der letzten Ayreon-Oper einbrachten), gelegentlich begleitet von Michael Holmes´ klaren Gitarrensoli. Die Lyrics bleiben vage und unklar, gut umgesetzt von Peter Nicholls´ dünner, klagender Stimme.

Schon nach einer guten Minute des eröffnenden Zwölfminüters „Sacred Sound“ dürfte sich jeder Neo Prog-Afficionado wie zuhause fühlen: ominöse Synthie-Schleier, filigrane Percussion… und dann dieses bombastische Orgelthema, das über die nächsten fünf Minuten nach allen Regeln der Kunst ausgebaut und erweitert wird, während sich die dazugehörigen Strophen und Refrains unweigerlich im Gehörgang breitmachen. Einer ruhigen Passage mit sehr an Fish erinnernden, detail- und symbolreichen Lyrics folgt nach dem finalen „What if I´m no longer sane?“ ein großer Instrumentalpart mit tollem Wechselspiel zwischen Orford und Holmes sowie vielfältigen Rhythmen. Von einem leichten Mangel an aufregenden Überraschungsmomenten abgesehen ist „Sacred Sound“ ein Musterbeispiel für einen Prog Rock-Longtrack, und obendrein völlig klar und schlüssig strukturiert.
Nun beginnt der Teil des Albums, der auf so manchem Prog-Werk traditionell etwas stiefmütterlich behandelt wird (bestes Beispiel: Genesis´ „Selling England by the Pound“): die kürzeren, überschaubareren Songs. „Red Dust Shadow“ beginnt den Reigen und schlägt mit seinen gedämpften Akustikakkorden und fließendem Fretless Bass in eine komplett andere Kerbe als der symphonische Opener, auch Peter Nicholls agiert hier einige Ränge tiefer als sonst, um dem Thema (familiäre Trennungen) gerecht zu werden. In den Strophen brodelt die Spannung unterdrückt vor sich hin, um dann in erstaunlich riffdominierten Parts kurz auszubrechen. Gefällt mir unerwarteterweise mindestens so gut wie „Sacred Sound“!

„You Never Will“, der kürzeste Track der Scheibe, erstaunt zuerst mit einem modernen Bassriff, entwickelt sich aber alsbald zum IQ-typischsten Song auf „Dark Matter“, mit einem reichhaltigen Angebot edler Melodien und einem überaus eingängigen Refrain. Michael Holmes´ von ganz klar Tony Banks-inspirierten Orgelsounds untermauertes Gitarrensolo zum Ende hin gehört zu den schönsten Momenten des Albums.
Das gallige „Born Brilliant“ bietet, vom recht netten Bombast-Finale abgesehen, im Grunde nur ein einziges Riff, über dem die übrigen Bandmitglieder den Großteil der Spielzeit kreiseln. Ergo der schwächste Song hier.
Am Ende steht, wie schon auf IQs kreativem Höhepunkt „Subterranea“, eine mehrteilige Suite von beeindruckenden Ausmaßen. „Harvest of Souls“ dauert gute 24 Minuten, und bereits beim gewollt harmlos dahinplätschernden Akustikintro beginnen die unvermeidlichen Vergleiche zu Genesis´ Magnum Opus „Supper´s Ready“. Nach wenigen Minuten wird dann allmählich klar, was hier gespielt wird, wenn Peter Nicholls vor völlig überzogen kitschigen Melodien (erinnern mich ein wenig an die Flower Kings…) „The world is lost but loves America“ jauchzt. Zwar sind IQ mit ihrer US of A-Kritik ein wenig spät an, doch selten wurde sie so geschickt formuliert wie hier.

Bereits wenig später ändert sich die Marschroute erneut. Nach „Hide where you can, we will shoot you where you stand“ prallen einmal mehr rasante Unisono-Passagen auf üppige Klavierparts im amerkanischen Songwriter-Stil („iv. Frame and Form“) und bedrohlich pulsierender Bombast auf federleichte Synthie-Teppiche, bevor ein triumphales Fadeout-Finale die Sache beendet. Tatsächlich ist der Band hier trotz der Länge ein angenehm straff arrangierter Longtrack geglückt, bei dem nicht nur die einzelnen Passagen unterhalten, sondern auch die Übergänge derart flüssig inszeniert wurden, dass Längen gar nicht erst aufkommen.

Fazit: Schön, dass man im Jahre 2004 noch so guten, traditionsbewussten (nicht altbackenen!) Artrock kredenzt bekommt! Die Wahrscheinlichkeit, dass IQ mit ihrem neuesten Album komplett mit den gängigen Neo Prog-Klischees aufräumen oder die Größe ihrer Fanbase schlagartig vervielfachen, schätze ich zwar als eher gering ein, aber ihren Stand als solideste Bastion des Brit-Prog dürften sie mit Leichtigkeit festigen können. Jeder Liebhaber melodisch-verschachtelter Klanggebilde und gehobener Handwerkskunst kann sich mit einem Tauchgang in der dunklen Materie nur einen Gefallen tun.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert