Review Igorrr – Spirituality And Distortion

Es gibt Dinge, über die muss man nicht diskutieren: Die Erde ist rund, die Herdplatte ist heiß und IGORRR sind verrückt. Daran lässt Gautier Serreauch, der Mann hinter dem Avantgarde-Projekt, auch mit dem nunmehr vierten IGORRR-Album „Spirituality And Distortion“ nicht den geringsten Zweifel.

Zweifel kommen einem höchstens beim Hören der 14 Stücke: Ob dieser 55-Minuten-Brainfuck noch als Musik im klassischen Sinne durchgeht. Ob er sich unbeschadet überstehen lässt. Und ob man das Erlebte später in (nachvollziehbare) Worte fassen können wird. Tatsächlich fordert „Spirituality And Distortion“ starke Nerven und alle Aufmerksamkeit, die man aufzubringen in der Lage ist. Ist die Schwelle zum persönlichen Wahnsinn erst überschritten, sind rationale Zweifel an der Hörbarkeit des verqueren Opus erst wie im Rausch verblasst, macht das Album – so viel sei noch vorweggenommen – dafür süchtig.

Eine Konzertgitarre mit Balkan-Flair, fettes Metal-Riffing, die virtuose Stimme von Sängerin Laure Le Prunenec, fiese Beats, noch fiesere Growls: Das sind in etwa die Elemente, mit denen IGORRR den Hörer in „Downgrade Desert“ überrumpeln. Denn natürlich haben IGORRR diese nicht wohldosiert aneinandergereiht, sondern wild übereinander geschichtet. Um „Nervous Waltz“ im Anschluss mit einer versöhnlichen Geige beginnen zu lassen, als sei nichts geschehen. Doch genau das ist, was „Spirituality And Distortion“ so gefährlich macht: Es passiert immer etwas. Meist rechnet man nicht damit. Zu den Geigen gesellen sich Metal-Gitarren, Trip-Hop-Beats und rabiates Schlagzeugspiel, Piano und Gesang – ehe alles in rhythmisch bis ins Skurrile zerhackstückten Elektronica-Bass-Orgien aufgeht.

So geht es Song um Song: Immer wenn man denkt, man habe sich in etwa auf IGORRR eingelassen, habe die Grenzen ihrer musikalischen Welt ungefähr umrissen, habe die Sache im Griff, kommt von irgendwo ein Cembalo („Hollow Tree“), eine orientalische Gitarre („Camel Dancefloor“) oder fieser Death Metal („Parpaing“) daher – jeweils in wohl allen mathematisch möglichen Kombinationen mit den bereits genannten Elementen. Und damit ist man erst bei der Hälfte des Albums. Absurderweise dauern die Songs von „Spirituality And Distortion“ nämlich selten länger als drei Minuten, was sich lediglich durch das bisweilen absurde Tempo erklären lässt, das IGORRR anschlagen: In „Musette Maximum“ etwa wird eine Ziehharmonika gequält, wie wohl selten eine Ziehharmonika zuvor in der etwa zweihundertjährigen Geschichte dieser Instrumentengruppe.

Dass ausgerechnet brutale Extreme-Metal-Parts der Entspannung dienen könnten, ist eine Logik, der außerhalb des Mikrokosmos Avantgarde /Extreme Metal wohl kein Mensch folgen dürfte. Tatsächlich sind die Metal-lastigen Songs wie „Parpaing“, „Himalaya Massive Ritual“ oder „Polyphonic Rust“ aber noch das Normalste an Spirituality And Distortion. Und dann kommt ein „Kung-Fu Chèvre“ daher, in dem zwischen alle ad Absurdum geführte Volkstümlichkeit mit voller Inbrunst ein Schaf blökt. Auch schon egal. Wer es bis zu diesem letzten Song geschafft hat, wundert sich auch darüber nicht mehr.

Es mag aus diesen Zeilen nicht unmissverständlich herauszulesen gewesen sein, aber auf seine ohne Frage sehr (sehr!) eigene Art ist „Spirituality And Distortion“ nichts weniger als genial. Ob man allerdings dem Urteil einer Person trauen sollte, die gerade ein 55:30-Minuten-IGORRR-Album mehrere Male am Stück gehört hat, ist überaus fraglich. Oder, um das Paradoxon des Epimenides zu bemühen, das zu lösen nun jedem selbst überlassen sei:

Alle IGORRR-Hörer sind unzurechnungsfähig
ein IGORRR-Hörer

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Wertung: 9.5 / 10

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