Review Iamthemorning – The Bell

  • Label: KScope
  • Veröffentlicht: 2019
  • Spielart: Entmetallisiert, Chamber Pop

Kaum eine Dekade ist es her, dass Sängerin Marjana Semkina und Pianist Gleb Kolyadin im Jahr 2010 ihr gemeinsames Chamber-Pop-Projekt IAMTHEMORNING gegründet haben und doch ist das russische Duo inzwischen kaum noch aus dem progressiven Teil der Musikwelt wegzudenken. Kollaborationen mit Top-Musikern von namhaften Bands wie Porcupine Tree und Riverside sowie die Unterstützung des Vorzeige-Prog-Labels Kscope haben den beiden begabten Tonkünstlern ordentlich Aufschwung verschafft – ein Höhenflug, der zuletzt ein Meisterwerk mit dem Titel „Lighthouse“ hervorbrachte, wofür IAMTHEMORNING sogar den Progressive Music Award in der Kategorie „Album des Jahres“ gewannen. Der kreative Quell der zwei Ausnahmekünstler ist jedoch noch längst nicht versiegt und so veröffentlichen Semkina und Kolyadin mit „The Bell“ nunmehr ihr viertes Studioalbum.

Wie bereits „Lighthouse“, das die mühevollen Lebensumstände von Menschen mit psychischen Krankheiten auf höchst einfühlsame Weise klanglich abbildete, sind auch die Songs auf „The Bell“ einem übergeordneten Thema gewidmet. Inspiriert von Liederzyklen aus dem 19. Jahrhundert und der Kunst und Kultur des viktorianischen Englands, befassen sich IAMTHEMORNING in ihren neuen Songs, von denen jeder eine eigene, kleine Geschichte erzählt, mit verschiedenen Erscheinungsformen menschlicher Grausamkeit. Auf den ersten Blick mag die bleierne Schwere dieses doch sehr bedrückenden Stoffes im Widerspruch zu den lieblichen Tönen stehen, die man hier zu hören bekommt. Den Stücken wohnt jedoch eine ergreifende Melancholie inne, die dem Konzept durchaus angemessen ist und trotzdem Raum für ein wenig Hoffnung und Lebensfreude lässt.

Dabei bilden Semkinas zärtlicher, hochtöniger Gesang und Kolyadins unprätentiös virtuoses Klavierspiel einmal mehr das jedem Sturm trotzende Krähennest eines Schiffes, von dem aus man die wundersamen Inseln der instrumentalen Beiträge der zahlreichen Gastmusiker überblicken kann. Ebenjene machen sich IAMTHEMORNING auf „The Bell“ sogar noch großzügiger zunutze als noch auf dem Vorgängeralbum. Songs wie der Opener „Freak Show“ oder das über sieben Minuten lange „Salute“ wechseln mit spielender Leichtigkeit zwischen sanften Harfenklängen, schrillen Saxophoneinlagen, tänzelnden Flamenco-Akustikgitarren und spacigen Prog-Gitarrensoli, ohne dabei jemals ihre Stringenz zu verlieren.

Doch auch den gemäßigteren Nummern wie dem leichtherzig beschwingten „Ghost Of A Story“ oder dem ruhig vor sich hin rauschenden „Blue Sea“, auf dem Kolyadin mit sanften Tastentönen die verspielte Gischt der Meereswellen imitiert, lassen IAMTHEMORNING stets ein breites Spektrum an klanglichen Nuancen angedeihen, sodass jede einzelne Komposition als wunderbares, einzigartiges Kleinod in Erinnerung bleibt. Spätestens das quirlige „Lilies“, das dem Pianisten mit seinen rasanten Arrangements wohl das volle Ausmaß seines technischen Könnens abverlangt, sollte zudem jeden Zweifel daran, dass IAMTHEMORNING auch ohne Hilfe von außerhalb Großartiges zustande bringen, restlos aus dem Weg räumen.

In musikalischen Belangen haben IAMTHEMORNING das schwindelerregend hohe Niveau ihres bisherigen Schaffens voll und ganz gehalten, wenn nicht sogar noch weiter angehoben. Abermals hat das Zweigespann eine Sammlung faszinierender Lieder kreiert, bei denen aufrichtige Emotionalität, Eingängigkeit, kompositorische Zielstrebigkeit und beeindruckendes, technisches Spielvermögen einander nicht ausschließen, sondern Hand in Hand gehen. Einzig das Textkonzept von „The Bell“ mag nicht ganz so unmittelbar ans Herz gehen wie jenes auf „Lighthouse“. Von diesem minimalen Unterschied abgesehen handelt es sich hierbei jedoch gleichfalls um eine nahezu perfekte Chamber-Pop-Platte und folglich um ein weiteres Meisterwerk, das IAMTHEMORNING als Spitzenreiter ihres Genres ausweist. Das muss man als Prog-Fan in diesem Jahr unbedingt gehört haben!

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Wertung: 9 / 10

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