Review Envy – Eunoia

Wenige Bands stehen so sehr für ein Genre und dienen zeitgleich als Beispiel dafür, wie sehr der Underground auch größere Bands beeinflusst, wie die japanische Post-Hardcore-Legende ENVY. Seit mehr als 30 Jahren ist die Band aktiv, von etlichen Hardcore-Bands als Vorbild genannt, seit 2017 nach längerer Unsicherheit in neuer Besetzung unterwegs. Angefangen im wüsten Hardcore, über verträumten Post-Rock, hin zu dem, was die Band heute ausmacht: pure Leidenschaft und Intensität. Die EP „Seimei“ von 2022 konnte als kleine Ankündigung verstanden werden, dass die Band wieder im Studio ist; es dauerte dann aber bis zum Sommer 2024, bis mit „Eunoia“ das neue Album von ENVY für Oktober desselben Jahres angekündigt wurde.

„Eunoia“ bedeutet, aus dem Griechischen übersetzt, so viel wie „Gunst, Wohlwollen, schönes Denken“ oder auch „Der Wunsch, einem anderen Menschen etwas Gutes zu tun, um des anderen Menschen willen“. Damit steht es quasi paradigmatisch für das Schaffen von ENVY – dieses Mal zwar in komprimierter, dafür aber seiner bisher vielseitigsten Ausprägung.

In bewährter Tradition eröffnen ENVY mit „Piecemeal“ das Album mit einem ruhigen, harmonischen Intro, das nahtlos in „Imagination And Creation“ übergeht. Die Grandeur und Epik des Auftakts werden von chaotischem Drumming, gehetzten Gitarren und Tetsuyas Gebrüll überrumpelt, ohne auch nur eine Sekunde an Schönheit zu verlieren. Atemlose Harmonien, Blastbeats, kurze Verschnaufpausen – in nicht einmal vier Minuten sind hier mehr Ideen, mehr Dynamiken, mehr Stimmungen verarbeitet, als ansonsten in ganzen Alben.

Im Kontrast dazu, aber immer noch in purer Harmonie angelegt, wird das folgende „The Night And The Void“ von warmen Gitarren, verhuschten Slides, zurückgenommenen Drumming und Tetsuyas Sprechgesang bestimmt. Nach knapp der Hälfte des Songs übernehmen ein Marschrhythmus und Klavier, bis die pure Sehnsucht in Tetsuyas nahezu überschlagender Stimme beim Crescendo mit seinem anschließenden verzweifelten Brüllen das Herz zerreißen lässt. Eine Schicht legen ENVY auf die vorhergehende, kennen keine Gnade mit den Gefühlen ihrer Hörer*innen und gießen zerbrechliche Schönheit ein ums andere Mal in Musik. Dazu passt perfekt, dass sich ENVY mit „Beyond The Raindrops“ mit reinem Cleangesang den Shoegaze erschließen und ihrem Schaffen so eine neue Facette hinzufügen.

„Eunoia“ funktioniert als Vinyl noch besser – denn hier wird klar, dass mit „Whiteout“ als Opener der B-Seite auch physisch die zweite, düstere, aggressivere, hoffnungslosere Hälfte des Albums einläutet. Zeichnen sich alle Texte auf „Eunoia“ durch Sehnsucht, Schmerz und Müdigkeit aus, wird es hier sowohl musikalisch als auch textlich zerstörender, wüster, kaputter – sogar Punk-Anleihen sind dabei zu hören. Dennoch blitzt auch hier immer wieder in einzelnen Momenten kurze Schönheit, ja, Hoffnung auf. Im Doppel „Lingering Light“/„Lingering Echoes“, das schon von „Seimei“ bekannt ist, setzt sich diese Ruhelosigkeit nahtlos fort.

Zum Abschluss versöhnen ENVY in „January’s Dusk“ dann allerdings beide Hälften, auch textlich. Mit Vocoder, stampfendem Drumming und flirrenden Gitarren bäumt sich alles noch einmal auf – und dann ist es auf einmal still. Kein Knall. Keine Erlösung. Nur „January’s Dusk“, der Neuanfang, der zu keinem Ende findet, aber unweigerlich zu Ende gehen muss. Nach gerade einmal 30 Minuten ist auf „Eunoia“ alles gesagt, keine Note ist zu viel, keine zu wenig.

Eigentlich hätte man sich die vielen Worte sparen können, denn: ENVY klingen auch auf „Eunoia“ wie ENVY. Und es gibt, trotz vieler Versuche, keine Band, die so klingt wie der Sechser aus Tokyo. Keine Band, die diese Gefühle, diese Leidenschaft durch simpelste Mittel erzeugen kann. Keine Band, die Sprachbarrieren so ignoriert – auch wenn die Übersetzung der japanischen Texte diesem Album noch einmal eine gänzlich neue Dimension hinzufügt und zeigt, wie hier alles perfekt miteinander verknüpft ist. „Eunoia“ mag das kürzeste Album der Band sein, ein Intro und ein Interlude eingerechnet – einmal mehr ist es aber nichts anderes als ein Meisterwerk.

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Wertung: 10 / 10

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