Ensiferum - Winter Storm 2024

Review Ensiferum – Winter Storm

Es war schon spät und draußen heulte der eisige Nordwind um die ganzjährigen Eiszapfen, die ich der Optik wegen an meinen Fenstern aufgehängt hatte. Das Jahr neigte sich dem Herbst zu, danach würde der Winter kommen, so wie es immer war und immer sein wird. Ich zog meine Polarfuchsdecke enger um mich. Auf dem Herd schmorte ein Eisbärenpfotenragout sanft vor sich hin. Alles war gut.

Plötzlich pochte es an die hölzerne Eingangstür (Poch!). Besuch? So spät? Doch war das hier eine anständige Gegend, Gefahr drohte nicht, also öffnete ich die Pforte. Draußen stand ein langhaariger Herr mit vereistem, blondem Bart und auffälliger Bemalung im Gesicht. Hinter ihm trippelte ein Ross unentwegt mit seinen Hufen auf dem Boden herum. „Heil dir, Fremder!“, sprach er. „Ich bis Isbert, der finnische Frostspeer! Und das ist mein Pferd ‚Galoppel‘! Ich komme vom Reenactment-Lager da hinten links. Und, naja, wir haben Runen geworfen und vielleicht ein bisschen was getrunken. Jedenfalls sagen uns unsere heiligen Zeichen, dass du auserwählt bist!“

Ich? Auserwählt? Das war ja ein Ding. „Für was denn?“, fragte ich nach. „Für eine kostenlose Eintrittskarte zu unserer neuen Aufführung ‚Wintersturm!‘! Wir sind nämlich fahrende Spielleute, sind lustig, leutselig und sehen zugegebenermaßen etwas bescheuert aus. Aber wir machen Musik, zu der man prima umfallen kann!“ Das überzeugte mich. Ich schüttelte Isbert die Hand und folgte ihm in das Lager.

Dort war bereits eine Bühne aufgebaut worden, um die Galoppel unentwegt herumgaloppierte. „Er gibt den Rhythmus vor! Das ist billiger als irgendwelche norwegische Berufsmusiker“, erklärte Isgrimm. Auf dem Parkett hatten sich drei ebenso langhaarige und -bärtige Gestalten versammelt, die mit einem zufriedenen „Brumm brumm“ anscheinend einen Chor bildeten. „Das sind Isegrimm, Isengart und Iserlohn“, erklärte Isgrimm. „Sie singen stetig schief im Hintergrund. Aber nun geht es los! Sieh, da kommen die Vigilanten des Winters!“

Tatsächlich erhob sich nach einer kurzen, wehmütigen Melodie auf einer schartigen Schalmei jetzt ein behänder Choral, unterstützt von Galoppels, nun ja, Galoppel. Nach wenigen Minuten trat ein Countertenor hervor, der in den höchsten Tönen tirellierte, während Isbert sich auf ansehnliche Kreischlaute konzentrierte. Die Stimmung im anwesenden Publikum nahm deutlich zu. „Nun wollen wir singen und trinken, denn der Winter ist lang“, sprach Isbert, dessen Worte anscheinend einer Songliste folgten, die der Leser oben einsehen kann. „Sag, Isbert“, frug ich ihn, nachdem die Geschwindigkeit wieder merklich angezogen hatte. „All diese Schwerter, Vaterländer und holde Jungfern, die ihr da besingt: Ist das nicht ein bisschen peinlich, und überhaupt, macht ihr das nicht seit vielen Jahren immer wieder gleich?“ Isbert schaute erstaunt und ertappt drein. „Naja“, sprach er, „weißt du, eigentlich betrinken wir uns nach jeder Aufführung derart, dass wir vergessen, was wir beim letzten Mal gespielt haben. Aber es wirkt doch!“

Da konnte ich ihm nicht widersprechen. Es wirkte sogar ganz hervorragend. Dennoch hatte ich eine kurze Pause nötig, zu viel war ich fröhlich erfreut durch den Schnee gehüpft. Eine schöne junge Dame stand plötzlich neben mir. Ich nahm meinen Mut zusammen und sprach sie an. „Verzeihung, junge Dame, kommen sie etwa auch aus Island?“ „Nein,“ sprach sie. „Aus Istrien. Ich singe hier die Ballade.“ In ihren Gesang mischte sich gleichwohl eine ferne Melancholie. „Ach wissen Sie,“ fuhr sie fort, „man hat es ja als Frau hier oben beileibe nicht einfach. Eben ist der Gatte noch da, da fährt er schon auf dem Schiff für ein halbes Jahr fort und ich sitz hier mit den Kindern allein und kann melodramatisch den Mond anheulen. Und dann auch noch Putzen und Kochen. Der Haushalt beengt mich wie der Reifen das Fass! Damit die Herren hier oben kapieren, was Gleichberechtigung heißt, müssten sie erstmal lesen können! Stattdessen faseln sie dauernd etwas von ‚Man muss ein Opfer bringen‘ oder so. Was für ein Unsinn!“ Sie blickte mich traurig an. „Was kann man da tun?“, fragte ich zurück. „Naja, momentan könnten wir schunkeln und stampfen. Denn das verlangt das nächste Lied.“

So war es auch. Isbert und der Countertenor ließen ein Geheul ertönen, um der Welt ihre Gebietsansprüche mitzuteilen. Dann setzte ein neuer Ton ein, langsam erst, verhalten episch und steigerte sich zusehends, ohne dass ich davon anfangs Notiz genommen hätte. Plötzlich explodierte ein großer Refrain genau vor meinen Augen. Die Bühne wackelte. Galoppel galoppierte. Die Temperaturen nahmen stetig zu. Aus Ordnung wurde langsam Chaos. „Isbert“, so rief ich, „Isbert, das ist ja ein richtig hervorragender Song!“ „Danke, danke“, gab der so Bedankte zurück, während er anfing, mit einer Breitaxt die Bühne auseinander zu nehmen. „Wir haben es auch fast geschafft. Zum glorreichen Sieg fehlt uns nur noch ein Abschlusslied. Damit das gelingt, ist es wahrscheinlich am besten, wenn wir den Göttern erstmal ein Opfer bringen!“

Wo war eigentlich die nette junge Dame von geradeeben abgeblieben? Irgendwo in der Ferne hörte ich einen spitzen Schrei, dann prasselte auch schon ein wärmendes Feuer, um das wir alle ein letztes Mal herumtanzten. „Sieg!“ verkündete Isbert, die Bühne brach unter dem tosenden Jubel der Beteiligten zusammen, Galoppel sprang über das Feuer, einige Schnapsleichen wurden von ihm betrampelt, doch das störte niemanden. Ich schüttelte dem finnischen Frostspeer begeistert die Hand. „Isbert, mein Freund, ich hatte nichts erwartet und alles bekommen. Ich fühle mich wieder wie Anfang 20. Das war ein ganz großartiger Abend!“ Der so Gelobte errötete leicht und antwortete: „Vielen Dank. Ich weiß, dass ich mir gleich mit selbstgebranntem Pferdeurin derartig die Birne wegknallen werde, dass ich mich morgen nicht mehr an deinen Besuch oder unsere Performance erinnern werde. Aber vielleicht erinnern sich ja auch beim nächsten Mal unsere Runen an dich!“ Das waren natürlich große Aussichten. Die gesunde Mischung aus Aufenthalt an der frischen Luft, viel Bewegung und eifrigem Mitsingen hatte mich so müde wie zufrieden gemacht. Ich machte mich auf den Heimweg und schwelgte in Erinnerungen an meine goldene Jugend. Mich erwarteten daheim Eisbärenpfoten und ein Grog. Der Winter konnte kommen.

 

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Wertung: 8.5 / 10

Redaktion Metal1.info

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