Review Enchant – Tug Of War

Das Jahr 2003 begann für Enchant ähnlich vielversprechend, wie das Vorjahr geendet hatte. Ihr sechstes Studioalbum „Blink of an Eye“ wurde von den Kritikern in höchsten Tönen gelobt und auch vom zahlenden Volk mehr als ansprechend aufgenommen (Platz 92 der deutschen Albumcharts, fast ist man versucht, von Mainstream-Akzeptanz zu sprechen), dazu durfte man am 18. Januar stolz verkünden, dass in Zukunft mit Bill Jenkins erstmals seit dem Ausscheiden von Gründungsmitglied Michael „Benignus“ Geimer am 19. Januar 2002 wieder ein Profi das Keyboard bei den Bay Area-Prog Rockern bedienen würde. Mitte März folgte dann die nächste freudige Nachricht: Enchant befanden sich zwecks Arbeiten an einem neuen Album bereits wieder im hauseigenen Studio, noch im Sommer, am 28. Juli, um genau zu sein, sollte das gute Stück dann in die Läden kommen.

Weniger überraschend: der auf „Blink of an Eye“ eingeschlagene musikalische Kurs wird auch auf „Tug of War“ konsequent fortgesetzt und weiterentwickelt, aufsehenerregend allerdings die Form der Weiterentwicklung. Im Großen und Ganzen bleibt man den eingängig-dynamischen Hard Rock/Prog Rock-Vibes des Vorgängers treu, es überwiegen also nachvollziehbare Songs mit eingängigen Melodien und griffigen Refrains. Diese jedoch werden mit einer Unzahl an Versatzstücken aus jeder Phase, die die Band im Laufe ihres 15jährigen Bestehens durchlebte, versehen; so erinnern einige ausschweifende, keyboardgetragene Instrumentalpassagen durchaus an das Debütalbum, atmosphärische, bedächtig instrumentierte Zwischenspiele versetzen den Hörer zurück in die „Wounded“/“Time Lost“-Ära, während die ruhigen, akustischen Passagen auch wunderbar zum alternativen 97er-Album „Break“ gepasst hätten.
Zusätzlich geben Enchant nicht nur gediegenen Prog Rock mit gelegentlicher Metal-Schlagseite zum besten, sondern sind sich auch nicht zu schade, ihrem latent vorhandenen Hang zum Grunge und zum Pop Rock freien Lauf zu lassen; bei anderen Tracks (die dieses Mal im Schnitt etwas länger ausfallen als zuletzt) wird dieses Mal wiederum weniger kompakt und geradlinig aufgespielt, sondern wieder verstärkt Wert auf ausgefeilt arrangierte, virtuose Solosektionen, Intros und Outros gelegt. Passend dazu überlasst Bandleader Doug Ott seinen Kollegen Ed Platt (Bass) und Bill Jenkins (Keys) erstaunlich viel Raum, ein Schritt, mit dem nach dem sehr gitarrenorientierten „Blink of an Eye“ nicht unbedingt zu rechnen war. Ebenfalls uneingeschränkt positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass beide Musiker nach der Two-Man-Show von Doug und Sänger Ted auf dem Vorgängeralbum nun auch ins Komponieren der Songs involviert sind, was für weiteren frischen Wind im Songwriting sorgt. (Das Schreiben der großartigen, wie immer realitätsbezogenen Texte bleibt allerdings nach wie vor diesen beiden Könnern vorbehalten.)

Über die Gesangsperformance von Ted, dem „kleinen Bruder von Steve Walsh (Kansas)“, der wie immer in tieftraurigen wie auch energischen, dieses Mal allerdings auch ungewohnt rauhen Momenten begeistert, muss man keine weiteren Worte verlieren, ebenso wie über Doug, der seinem Sechssaiter ein gefühlvolles Solo nach dem anderen entlockt oder kernige Power-Riffs auftischt. Das Keyboard, das in den letzten Jahren eher ein sekundäre Rolle eingenommen hatte, kommt dieses Mal unter Bill Jenkins, der mit „Tug of War“ erstaunlicherweise sein Debüt im Musikgeschäft feiert (hauptberuflich arbeitet er als Synth-Designer bei Korg!) und das Instrument ungeachtet dessen überaus kompetent bedient, mit einer Mischung aus spacigen Bombast-Teppichen, klassischem Piano und einigen ungewohnten Retro-Einsprengseln wieder so richtig zum Zuge. Auch Bassist Ed nutzt den ihm zur Verfügung gestellten Raum zu einer perfekten Performance (seine beste auf einem Enchant-Album bis dato!), gleichermaßen eigenständig und spektakulär wie songdienlich und geschmackvoll, genau wie Drummer Sean, der nach seiner etwas zahmen Darbietung auf „Blink of an Eye“ diesmal zeigt, was er drauf hat und bereits seinen ganz eigenen Stil zwischen Prog und Alternative Rock gefunden hat. Eine glasklare Produktion garantiert, dass man sich auch als Rezipient vom Können der fünf Musiker überzeugen kann.

Bereits der Opener „Sinking Sand“, der im Vorhinein schon auf einem InsideOut-Sampler zu hören war, zeigt die neuen alten Enchant in bester Spiellaune. Der Song, dessen klassisch-edle Prog Rock-Melodien richtig ins Ohr gehen, kommt über weite Strecken komplett ohne Gitarren aus und nimmt erst am Ende an Fahrt auf, so dass die erste Hälfte bis auf den wunderschönen Prechorus von Bass, Keyboard und Ted Stimme getragen wird. Die Lyrics über Teds HIV-positiven Bruder gehen richtig unter die Haut, ebenso Dougs wie immer perfekt passendes Solo (eines seiner besten, und das will was heißen!), als Sahnehäubchen gibt´s noch ein spektakuläres, aber gefühlvolles Instrumental-Outro.
Das folgende Titelstück ist trotz seiner Länge von über siebeneinhalb Minuten eher rifforientiert und grungig angehaucht (Erinnerungen an „Blind Sided“ werden wach), bleibt jedoch mit seiner endlos coolen Bridge, dem ungewohnt hymnischen Refrain und dem keyboard-lastigen Outro über die komplette Distanz spannend und gut.
Mit „Hold the Wind“, einer Anklage des hohlen Materialismus, folgt dann der erste etwas kürzere Track, der jedoch weit davon entfernt ist, einfach zu sein. Strophen und Refrain sind rhythmisch komplex, aber eingängig und energiegeladen, doch der eigentliche Star des Stücks ist die absolut abgefahrene, mehrminütige Mittelsektion, in der Ed am Bass so richtig vom Leder zieht und Doug und Bill abwechselnd sphärische Synthies und hohe Leadsoli darüber legen. Definitiv das Prog-Highlight des Albums!

„Beautiful“, eine pompöse Ballade von Doug, einem wahren Meister des Fachs, ist mit viereinhalb Minuten ziemlich kurz, erfüllt aber seinen Zweck; Akustikgitarre, Klavier und Streichinstrumente aus der Dose tragen den Song, E-Gitarre und Keyboard halten sich eher bedeckt, während Ted dazu die überschwänglichen Lyrics über Dougs vielbesungene Beziehung zum Ausdruck bringt. Schönes Stück in der Tradition von „Acquaintance“ und „Ultimate Gift“.
Track Nr.5, der Siebenminüter „Queen of the Informed“, stellt mit seinen ruppigen Riffs und Bassläufen sowie auffälligen Doppelbass-Attacken einen der härtesten Songs der Bandgeschichte dar, textlich ein durchaus brisanter Angriff auf (Doppel)Moralisten und Heuchler. Im krassen Kontext zu Teds provozierenden Vocals und dem kurzen, unheimlich eingängigen Refrain steht der leichte, orgeluntermalte Prechorus, während die zu Beginn noch schwermütige und leise, an „Wounded“ erinnernde Solosektion auf einen instrumentalen Höhepunkt mit geradlinigen Riffs und groovigen Hammond-Orgeln hinarbeitet.
„Living in a Movie“ ist ein interessanter Hybrid des subtilen „Wounded“-Sounds (Strophen) und einem lebhaften, grungig klingenden Chorus im besten „Juggling 9 or Dropping 10“-Stil. Die Lyrics, eine tragisch-komische, überzeichnete Anwendung von Murphys Gesetz, sind gelungen, jedoch endet der Song, bevor die Geschichte wirklich zuende erzählt werden kann.

Als eines der poppigsten Produkte der Bandgeschichte wiederum dürfte das kurze „Long Way Down“ durchgehen, ein nettes, lockeres Akustikstück mit einem tollen Sean Flanegan im Outro. Der einzige Track des Albums, den man ansatzweise als Schwachpunkt bezeichnen könnte, dennoch nett.
„See no Evil“ wiederum, ein von Ted Leonard im Alleingang geschriebener Song, hätte mit seinen gefälligen, erneut teilweise akustisch gehaltenen Melodien auch gut neben Songs wie „My Gavel Hand“ oder „Once a Week“ (für das ebenfalls Ted verantwortlich zeichnet und das „See no Evil“ durchaus ähnelt) auf dem genialen 97er-Album „Break“ stehen können. Sängerknabe Ted spielte für diesen Song dazu noch bis auf ein finales Solo alle Gitarren ein (und macht sich dabei sehr gut!), dafür bemüht Gitarrist Doug im Mittelteil seit langem mal wieder seinen charismatischen Bariton. Sehr starkes, bodenständiges, unheimlich melodisches Stück.
Als vorletzter Song des regulären Albums folgt mit „Progtology“ der heißersehnte Nachfolger des beliebten Hammerinstrumentals „Prognosis“: sind die um ordentlich bratende Riffs und fette Mellotron-Sounds herum aufgebauten Strophen noch recht zivilisiert, geht im Mittelteil so richtig der Punk ab: hier stapeln sich dreckige Rock-Riffs, tolle Klaviersoli und irrsinniges Bass-Geslappe à la Mark King (Level 42), dass man aus dem Staunen nicht mehr rauskommt, bevor sich Bill Jenkins mit einem perfekten Keyboardsolo endgültig in die Herzen der Fans spielt. Erneut ein sehr starkes Instrumental, das für meine Begriffe jedoch nicht ganz an den übermächtigen Vorgänger heranreicht.

Am Ende des Albums zaubern Enchant mit dem Neunminüter „Comatose“ ein ziemlich innovatives Stück Musik über eines der Lieblingsthemen der Band, nämlich die Lethargie des Menschen, etwas aus seinem Leben zu machen, aus dem Hut: die ersten Minuten werden komplett von Piano und Gesang beherrscht, erst nach einigen Minuten gesellt sich, ganz zaghaft, eine majestätische Kirchenorgel dazu, bevor Doug ein nicht enden wollendes, wunderbar altmodisches Gitarrensolo vom Stapel lässt, mit dem er endgültig in die göttlichen Sphären seines Mentors Steve Rothery (Marillion) vorstößt. Zu Beginn sehr schüchtern, entwickelt sich der Song im Laufe der 9 Minuten zu einer genialen Powerballade, bombastisch, wuchtig und unheimlich emotional! Der beste denkbare Abschluss für dieses Album.
Auf der Limited Edition des Albums, das im Slipcase daherkommt und mit einem mit Zusatzinfos gespickten Booklet aufwartet, ist als Bonustrack noch eine Liveversion von „Below Zero“ enthalten, die auf dem NearFest 2002 aufgenommen wurde und sehr lebhaft und erstaunlich heavy klingt.

Fazit: Ich schrieb bereits im Reviews des Vorgängeralbums, dass es „das beste und eingängigste Enchant-Album seit ‚A Blueprint of the World’“ sei, doch ihr neuestes Werk „Tug of War“ überbietet es noch ganz beträchtlich. Fanden sich auf „Blink of an Eye“ bei genauerem Hinhören noch einige wenige Durchhänger und Ideen, die nicht vollends aufgingen, so geht dieses Mal jeder Song nahezu genau ins Schwarze. „Tug of War“ ist technisch und kompositorisch anspruchsvoller als sein Vorgänger und besser produziert, dabei noch abwechslungsreicher, teilweise sogar noch einprägsamer und gefühlvoller… mit einem Wort: noch besser.
Enchant ist das Kunststück gelungen, trotz allgegenwärtiger Querverweise auf ihre eigene Diskografie nicht wie eine altbackene Selbstkopie zu klingen, sondern ein frisches, modernes Album voller Ideen aufzunehmen. Nahezu perfekt.

Wertung: 9 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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