Dieselben Streicherarrangements, die „Crimson“ ausklingen ließen, begrüßen uns in den ersten Sekunden des Nachfolgers „Crimson II“ wieder und sofort bekomme ich eine Gänsehaut. Yes, das ist wahre Kunst, Swanö bleibt sich treu. Zugegeben, zwischen meinem ersten Hördurchlauf von „Crimson“ und dem ersten Einlegen der „Crimson II“ lagen nur etwa zwei Jahre, aber trotzdem stellt sich bei mir sofort ein nostalgischeS Gefühl ein. Wie muss es nur den Leuten gegangen sein, die seit 1996 regelmäßig den ersten Streich gehört haben und dann 2003 von diesem Intro begrüßt wurden?
Lange Rede, kurzer Sinn: Hier liegt uns das letzte Album der schwedischen Prog-Death-Metaller EDGE OF SANITY vor, die Fortsetzung des 1996er-Konzeptalbums um die Königin mit den tödlichen blauen Augen. Eigentlich war die Band ja schon 1997 aufgelöst worden, nachdem Swanö und Andreas Axelsson sich in die Haare gekriegt hatten, aber Dan entschied sich, EDGE OF SANITY 2003 noch einmal aufleben zu lassen, um sein Opus Magnum zu komplettieren. Im Alleingang spielte er die Musik ein, ließ aber immerhin noch Platz für ein paar Gastkontributionen. Und erneut ist dabei quasi ein einziges Lied herausgekommen, mit einer Länge von knapp 45 Minuten.
Wieso sich die Trackliste dann so… äh… handlich ließt? Naja, als „Crimson“ 1996 an die Plattenläden geliefert wurde, stutzten die ein wenig ob des einzelnen Tracks darauf und verscheuerten das Ding dann teilweise als Single (was es eigentlich ja auch ist, höhö). Das gefiel Swanö nicht sonderlich, also entschied er sich beim Nachfolgewerk für den absoluten Track-Overkill, teilte den Song „Crimson II“ erst mal in neun „Untersongs“ auf und zerstückelte die dann nochmal ordentlich, so dass im Endeffekt 44 Songs mit einer Spieldauer von 21 Sekunden („The Forbidden Words I“) bis maximal eine Minute und 51 Sekunden („Covenant of Souls II“) dabei rumkamen. Eine wahre Wonne für jeden, der seine CDs gerne im Shuffle-Modus hört oder einen MP3-Player hat, der Zwangspausen zwischen die Stücke schiebt (ja, ich gehöre zu den „Glücklichen“)… nicht.
Lassen wir das aber mal bei Seite und konzentrieren uns auf die eigentliche CD. Die setzt, wie gesagt, genau da an, wo „Crimson“ aufgehört hat. Mit den Streichern, der Ruhe vor dem Sturm. Denn bei „The Forbidden Words II“ geht das Gebolze schon los. Ein unglaublich tolles Riff leitet die Platte ein und man sieht schon, dass Swanö sich bestens mit allen Instrumenten auskennt, denn was er hier abfeuert ist große Klasse. Die Musik ist wieder genau so emotional wie auf dem Vorgänger, verwendet teilweise gleiche oder ähnliche Riffs und auch reminiszente Textzeilen. So werden „Crimson“-Hörer schon beim ersten Durchlauf das eine oder andere Déjà-Vu erleben. Glücklicherweise funktioniert die Musik auf „Crimson II“ aber auch eigenständig bestens.
Textlich knüpft die Scheibe mit einigem Abstand an den Vorgänger an. Die Story schaut folgendermaßen aus: Eine Nonne findet in einer Klosterbibliothek in einer zerstörten Stadt ein Buch, das eine seltsame Anziehungskraft auf sie ausübt. Sie ließt darin düstere Warnungen vor irgend etwas, das eingesperrt ist und nicht freigelassen werden darf. Aber genau das passiert durch ihre Lektüre, der Geist der bösen Königin aus dem ersten Teil ergreift Besitz von der Nonne und sie bringt kurz darauf ein Kind zur Welt, das als eine Art neuer Messias verehrt wird. Den Rest kann sich wohl jeder denken. Rein qualitativ haben auch die Lyrics einen großen Schritt nach vorne gemacht. Waren die auf der „Crimson“ hin und wieder noch etwas holprig, lesen (und hören) sie sich diesmal wirklich gut, was wohl daran liegt, dass sie von Clive Nolan geschrieben wurden, einem britischen Musiker, der schon mit Ayreon und Dragonforce zusammengearbeitet hat. Die Qualität der Texte ändert allerdings nichts daran, dass die Story wesentlich flacher und generischer ist als die des ersten Teils, aber naja.
Davon abgesehen ist „Crimson II“, das letzte EDGE OF SANITY-Album, ein absolut würdiger Nachfolger der genialen ’96er-Scheibe. Musikalisch in jeder Hinsicht ebenbürtig, storytechnisch etwas schwächer, lyrisch besser, mit einem cooleren Coverartwork (gemalt von Kristian Wåhlin) und mit einer großen Portion Wiedererkennungswert und Reminiszenzen an den Vorgänger ausgestattet kann man die beiden CDs wohl nur als ein großes Ganzes ansehen, da sie perfekt miteinander harmonieren. Und deswegen wäre es auch ungerechtfertigt, diesem Opus eine schlechtere Bewertung als dem Vorgänger zu gebene, zumal Swanö sich hiermit jeden einzelnen Punkt redlich verdient hat.
Wertung: 10 / 10