Review Dream Theater – Train Of Thought

Das 2002 erschienene Vorgängeralbum “Six Degrees of Inner Turbulence”, obwohl Dream Theaters bis dato ambitioniertestes Werk, wurde nicht ganz kritiklos aufgenommen. Zum ersten Mal seit „Falling into Infinity“ wurde, etwa aufgrund des Mittelteils von „The Glass Prison“ oder der endlosen Instrumentals im Titeltrack, Vorwürfe der substanzlosen musikalischen Angabe statt, zusätzlich beschuldigte man die fünf New Yorker, sich stärker als je zuvor von anderen Musikern inspirieren lassen zu haben oder diese gar zu kopieren (Tool, Symphony X, Peter Gabriel). „Train of Thought“, das überraschend schnell eingespielte und nachgelegte siebte Studioalbum der Band, unterlag vor seinem Release im Oktober 2003 dennoch einem mächtigen Hype.

Für so manchen, der auf ein Album in der Machart von „Scenes from a Memory“ gehofft hatte, der erste Schock dann gleich bei der Bekanntgabe der Songlängen: konzeptionell ähnelt „Train of Thought“ der ersten CD des Vorgängers, bis auf zwei kürzere Songs (3 und 7 Minuten) spielt sich das Album komplett jenseits der 10-Minuten-Grenze ab. Auch stilistisch hat man sich vom dort eingeschlagenen Weg nicht komplett entfernt, denn Dream Theater-Sprachrohr Mike Portnoy hat sein Versprechen, ein „classic metal album“ abzuliefern, zumindest, was die Härte anbelangt, definitiv gehalten. Denn obwohl Dream Theater natürlich immer noch nach sich selbst klingen, wird man beim Hören des neuen Materials öfter von Metallica- oder Megadeth-Reminiszenzen überfallen als von Gedanken an Größen des Progressive Rock, was durch die fette Produktion auch deutlich authentischer klingt als auf „Six Degrees of Inner Turbulence“.
Entsprechend beruht das Spiel des etwas in die Kritik geratenen Meistergitarristen John Petrucci dieses Mal noch stärker auf heftigen Riffs und Soli, die oftmals leider in reine Girffbrettakrobatik abdriften (was dem Album den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Rain of Notes“ einbrachte). Nach dem Überangebot an Jordan Rudess auf den letzten beiden Studioalben begnügt sich dieser nun mit seinem typischen Piano- und Synthie-Läufen und kleineren Elektronikspielereien, während Basser John Myung, der zuletzt etwas in der Versenkung verschwunden war, wieder erheblich stärker zur Geltung kommt. Auch Mike Portnoy mit seinen Trademark-Doublebass-Wirbeln gefällt mir im Kontext des Album so gut wie lange nicht, am meisten überrascht hat mich jedoch Sänger James LaBrie, dem man ja seit einigen Jahren einen gewissen stimmlichen Verfall nachsagt. Passend zum instrumentalen Rahmen vertont er die teilweise provokativ-wütenden Texte von Petrucci und Portnoy erstaunlich rauh (wobei er auch vor der einen oder anderen F-Bombe nicht zurückschreckt), seine Stärke liegt allerdings nach wie vor in den wenigen balladesken Parts. Eine sehr runde Leistung, die ihm so wohl kaum jemand zugetraut hätte.

Der zweite handfeste Schock erfolgt dann erst wieder beim Hören. Dream Theater machen keinen Hehl daraus, dass sie beim Songwriting großen Wert darauf gelegt haben, ihr technisches Können anhand komplett wahnsinniger Instrumentalpassagen und haarsträubender Breaks eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. Problematisch daran ist nur, dass diese Frickeleien vor allem dazu dienen, die Songs aufzubauschen; sie klingen, so spektakulär sie auch sein mögen, oftmals ziemlich prätentiös und gelegentlich etwas aufgesetzt. Dieser Umstand wäre ein umso größerer Makel, wäre das Album nicht mit dieser Härte und einem gelegentlichen Monstergroove gesegnet – so jedoch wird der nörgelnde Kopf zumeist vom begeistert rockenden Bauch ruhiggestellt.
Dies wird bereits beim siebenminütigen Opener (und der baldigen Singleauskopplung) „As I Am“, der eher die Metal-Klientel inner- und außerhalb der Dream Theater-Fangemeinde ansprechen soll, deutlich. Von einem Shred-Gitarrensolo und kaum nennenswerten Keyboard-Tupfern abgesehen ist der Song komplett in ein kompaktes Midtempo-Riffgewand gehüllt, das schnell Vergleiche mit Acts wie Godsmack nach sich zog. Während das Stück bei den ersten Durchläufen vor allem unspektakulär anmutet, beißt sich der Refrain nach einer Weile ganz gut in den Gehörgängen fest. Übrigens scheinen Dream Theater eine Art Tradition erschaffen zu wollen, indem sie „As I Am“ so beginnen lassen, wie der Titeltrack des Vorgängers endete.
Wesentlich mehr Überraschungsmomente hält da doch der erste Longtrack „This Dying Soul“ bereit, während dessen elfeinhalb Minuten man unter anderem mit tiefgestimmten Groove-Riffs, melodischen Parts (die einige Leute dazu veranlasst haben, meiner Meinung nach unzutreffende Vergleiche zu Iron Maiden zu ziehen) sowie verzerrtem Sprechgesang bombardiert wird. Da zollt man Metallica Tribut, indem man „Blackened“ aus der Mottenkiste kram und frischt die Erinnerung an das hauseigene „The Glass Prison“ wieder auf, bevor der Song mit einem anstregenden Instrumentalmassaker, das tatäschlich wie eine Kreuzung aus besagter Thrashgranate und „Dance of Eternity“ tönt, sein Ende findet. Auch textlich schließt sich „This Dying Soul“ and „The Glass Prison“ an, denn Mike Portnoys Lyrics drehen sich um Phase 4 und 5 der Heilmethode der Anonymen Alkoholiker.

Zu Beginn des genauso langen „Endless Sacrifice“ werden erstmals balladeske Töne angeschlagen, bis nach gut zwei Minuten ganz plötzlich der unheimlich mitreißende Refrain die Idylle aus Akustikgitarre, Streichern und eindringlichem Gesang zerreißt. Die obligatorische Frickelorgie wartet diesmal mit harschen Breaks und schrägen Elektro-Einlagen wie aus einem Slapstick-Stummfilm auf, während das letzte Drittel den unbedarften Hörer mit dem bangbarsten (!!) Dream Theater-Riff aller Zeiten aus den Latschen haut. Ganz große Klasse, dürfte auch und vor allem live richtig Spaß machen.
Das zehnminütige „Honor thy Father“ geht als der New Metal-lastigste (!!!) Track des Albums durch. Der Anfang klingt nach einem Metallica-Track neuesten Datums, nur besser, und James LaBrie brilliert nach der ersten stilechten Strophe mit einem lupenreinen Rap! Der Mittelteil baut vor allem auf Stakkato-Riffs, recht flächendeckende Keyboards und die früher Dream Theater-typischen Sprachsamples. Besonders zu Anfang sehr gewöhnungsbedürftig, und das Niveau von „This Dying Soul“ wird auch später nicht erreicht, dennoch gut hörbar.
„Vacant“ wiederum, eine kurze, schwermütige, nur mit Klavier und Streichern bestückte Ballade, darf als echter Schwachpunkt bezeichnet werden, und zwar aus einem bestimmten Grund. Für sich genommen ist das Stück nicht schlecht (auch wenn es keinen wirklichen Zweck erfüllt), allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es nur als Alibi-Ballade zur Entzerrung des Albums eingebaut wurde. Ein zweites „Wait for Sleep“ ist es jedenfalls nicht geworden.

Mit „Stream of Consciousness“ folgt dann das erste Dream Theater-Instrumental seit “Dance of Eternity”, und mit stattlichen 11 Minuten auch gleich das längste. Dennoch ist der Track erstaunlich leicht zu hören, da nicht so heavy und verzwickt wie die drei Tracks zuvor, sondern vor allem im ersten Drittel eher auf beschwingte Melodien bedacht (mit dem besten Gitarrensolo des Albums). Im Mittelteil wird dann etwas Tempo rausgenommen und man groovt zu schön schweren Basslines vor sich hin, bevor die Pace zum Ende wieder etwas angezogen wird und man sich einem großen Bombast-Finale nähert. Etwas schwungvoller als „Erotomania“ (wenn auch nicht so perfekt), nicht so wirr wie „Dance of Eternity“, und beiden Stücken durchaus ebenbürtig.
Das Grand Finale des Albums markiert dann der mit 14 Minuten längste Song des Albums, „In the Name of God“, der mit seiner dramatischen Gesamtausrichtung und besonders in Punkto Riffs und Rhythmen an die härteren Momente von „Scenes from a Memory“ (wie etwa „Beyond this Life“ oder „Home“) erinnert. Dass der Refrain hier epischer und die Keyboards dominanter ausfallen als auf dem Rest des Albums, verhindert freilich nicht, dass Dream Theater sich um Kopf und Kragen frickeln, ganz im Gegenteil! „In the Name of God“ beherbegt nämlich die wüstesten Breaks des Longplayers, und die ausschweifende Solosektion toppt mit ihren Latin-Rhythmen und wahnsinnigem Bassspiel alles zuvor (auf dieser Platte) gehörte. Gott sei Dank endet der Track in einem bombastischen Breitwand-Climax und zieht somit einen beinahe versöhnlichen Schlussstrich unter das ansonsten erschreckend harte Album.

Fazit: Wie schon „Six Degrees of Inner Turbulence“ ist auch „Train of Thought“ ein überaus kontroverses Album geworden. Die hohe Frickellastigkeit ist im Prinzip ein großer Schwachpunkt, den man als um Objektivität bemühter Reviewer ankreiden muss, auch wenn er für meine Begriffe durch die Härte des Albums ausgebügelt wird oder zumindest weniger gravierend erscheint. Kann man darüber hinwegsehen, so erwartet einen eine Scheibe, die als Kunstwerk zwar nicht so gut funktioniert wie „Images and Words“ oder „Scenes from a Memory“, als Metal-Album dafür umso mehr. Meine Meinung muss man nicht teilen, aber ich jedenfalls hatte und habe an „Train of Thought“ so viel Spaß wie an keinem Dream Theater-Opus nach „Awake“. Objektiv gibt´s jedoch „nur“ eine extra strenge 8,5.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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