Review Deadsoul Tribe – The January Tree

Deadsoul Tribe muss man zweifellos zu den profiliertesten Erzeugnissen der jüngeren Progressive Metal-Geschichte zählen. Unter diesem neuen Markennamen versteht es der früheren Psychotic Waltz-Fronter Devon Graves, der seine Zelte nun in Wien aufgeschlagen hat, perfekt, da anzuknüpfen, wo die Legende seiner alten Band nach „Bleeding“ endete. Und mit den beiden guten bis sehr guten Alben „Dead Soul Tribe“ und „A Murder of Crows“ noch einigermaßen frisch im Gedächtnis kann man voller Zuversicht, dass die hohen Erwartungen garantiert nicht enttäuscht werden, an das laut ungeschriebenem Gesetz kritische dritte Album herangehen.

Die größte Stärke von Psychotic Waltz lag stets darin, den Grundgedanken des progressiven Metal – innovative, denkwürdige Klanggebilde mit Hilfe ungewöhnlicher Harmonien und Strukturen zu erschaffen – auf engstem Raum und ohne unnötigen Exhibitionismus und sonstige Genreklischees umzusetzen. Also sind auch auf „The January Tree“ die verwendeten Stilmittel äußerst einfach: auf turmhohe Wände aus wuchtigen Midtempo-Riffs (mit so manchem zweistimmigen Formationsflug, aber ohne Soli!) und einem Fundament aus prägnantem Bass und dem gleichen multidimensionalen Drumming, das auch Tool so auszeichnet, prallen gelegentliche Streicheleinheiten mit akustischer Gitarre und der öfter als zuvor zum Einsatz kommenden Flöte.
Im Zentrum dieses ungeheuer intensiven Sturms, der übergangslos zwischen beklemmend-schweren und majestätisch schönen Momenten hin- und herpendelt, stehen natürlich die vielen Facetten von Graves´ Stimme, der wimmert, klagt, den Hörer zärtlich umgarnt und seine wehmütigen, oft auch Gesellschaft und Obrigkeit kritisierenden Lyrics unbarmherzig predigt oder wutentbrannt hinausschreit. Die zehn Tracks folgen in sich keinen bekannten Schemata und enden teilweise ohne Vorwarnung; daher wirken sie eher wie Bestandteile eines Gesamtkunstwerks als wie einzeln stehende Songs. Frei nach Aristoteles ist „The January Tree“ also definitiv größer als die Summe seiner Teile.
Diese Beschreibung würde allerdings ebenso gut auf die beiden anderen Deadsoul Tribe-Epen passen… was hat sich also grundlegend geändert? Devon selbst war der Ansicht, dass seine bisherigen Outputs zwar gut, aber noch nicht konstant genug waren – schließlich waren auf „A Murder of Crows“ neben Hämmern wie „Some Things You Can´t Return“ auch weniger unentbehrliche Momente („Flies“) zu finden. Also hat sich das Multitalent kurzerhand von jeglichem Ballast verabschiedet und das Album auf eine Gesamtspielzeit von 50 Minuten reduziert. Nun haben auch die „kleineren“ Stücke zwischen den sicherlich baldigen Klassikern durch die Bank eine eigene Identität und werden kaum noch als Beiwerk abgetan werden. Auch die Produktion ist sehr zum Vorteil der Intensität noch ein wenig zwingender und tighter ausgefallen.

Eine wirklich eingehende Beschreibung einzelner Tracks macht wenig Sinn – bei „The January Tree“ geht es um Atmosphäre und intensive, monumentale, nicht immer „angenehme“ Momente anstatt um musikalische Schaustücke. Als Highlights stehen meiner Meinung nach vor allem drei Tracks heraus: „The Coldest Days of Winter“, „Toy Rockets“ und „Just like a Timepiece“. Ersteres zeigt einmal mehr, dass Psychotic Waltz die Progressive Metal-Band waren, die aus beschränkter Zeit das meiste herausholen. Was hier im Laufe von dreieinhalb Minuten trotz des vergleichsweise simplen Aufbaus an packenden Melodiebögen und Ideen aufgefahren wird, ist einfach beeindruckend. Bei „Toy Rockets“ ist wieder Graves´ unüberhörbar von Ian Anderson inspiriertes Schlangenbeschwörer-Flötenspiel, das in der zweiten Hälfte des Albums stark an Bedeutung gewinnt und der Musik einen unverwechselbaren Stempel aufdrückt, zu hören. Auch lohnt es sich, auf Adel Moustafas ethno-angehauchte Schlagzeugarbeit und die unmissverständlich wütenden Lyrics zu achten.
Das wahre Juwel der Platte ist ironischerweise kein waschechtes Deadsoul Tribe-Produkt, denn nicht nur Rage können alte Tracks aus der Mottenkiste kramen und im neuen Sound wieder zum Leben erwecken. „Just like a Timepiece“ datiert zurück bis zu Graves´ Soloalbum „The Strange Mind of Buddy Lackey“ und macht deutlich, warum Psychotic Waltz in ihrer Hochphase Anfang der Neunziger gerne als „Hippie Metal” bezeichnet wurden; das epische, sich in schwindelerregende Höhen schraubende Outro übt eine geradezu hypnotische Faszination aus. Streckenweise geben Klavier und Flöte hier den Ton an, zusammen mit den symbolträchtigen Lyrics fühlt man sich sogar ein wenig an Marillion zur Fish-Ära und die frühen Genesis erinnert!

In den übrigen sieben Tracks steckt jedoch weitaus mehr als schwermütiger Einheitsbrei. „Sirens“, „The Love of Hate“ oder „Wings of Faith”, das mit seinem maschinellen Beat richtig „modern“ klingt, bieten straightere Metal-Kost als gewohnt, während „Why?“ und der Opener „Spiders and Flies“ zwischen undurchdringlichen Riff-Gewirren und filigranen Silberstreifen am verhangenen Horizont erhabene Spannungbögen beheimaten.
Am Ende steht mit „Lady of Rain” ein etwas überraschender und deswegen umso denkwürdigerer Schlusstrack, beinahe eine Ballade. Wie etwa bei Dream Theaters legendärem „Space-Dye Vest“ bringen sich die meisten Instrumente erst spät und eher zurückhaltend ein, im Mittelpunkt steht Graves´ von tiefer Trauer erfüllte Stimme, zumeist nur vom Piano begleitet.

Fazit: Devon Graves wird sich mit Wonne an sein Jahr 2004 zurückerinnern. Erst stiehlt er auf Lucassens jüngster Oper fast all seinen Kollegen die Schau (abgesehen vielleicht von Opeths Mikael), dann liefert er seine bisher stärkste und homogenste Soloarbeit ab. Bleibt zu hoffen, dass er im Vorprogramm der kommenden Threshold-Tour mehr Beachtung finden wird als bei seinem letzten Festivalgig auf dem Summer Breeze und dass „The January Tree“ noch nicht zugunsten irgendwelcher Rödelcore-Scheiben in Vergessenheit geraten sein wird, wenn am Jahresende das Album 2004 gewählt wird. Wer sich für eine traditionellere Ausgabe von Tool begeistern könnte oder einfach fesselnde Musik haben will, die griffig, aber noch nicht wie tausend Mal gehört klingt, sollte zugreifen.

Wertung: 9 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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