Das Jahr 2020 war für CYNIC eine Kraftprobe. Anfang des Jahres verstarb Drummer Sean Reinert an einer Herz-Kreislauferkrankung, Ende des Jahres nahm sich Bassist Sean Malone das Leben. Freunde und Familien blieben mit gebrochenen Herzen zurück, Gründungsmitglied Paul Masvidal musste der Auflösung seines Herzensprojekt entgegensehen. Dass CYNIC wider Erwarten im Folgejahr ein neues Album veröffentlichen, ist Masvidal zu verdanken, der bereits kurz nach der Veröffentlichung von „Kindly Bent To Free Us“ (2014) begann, neues Material zu schreiben. „Ascension Codes“ heißt das vierte Album von CYNIC und das erste, auf dem das Trio Reinert, Malone und Masvidal nicht mehr zusammen, sondern nur noch Masvidal zu hören ist.
Musikalische Unterstützung holt sich der Sänger und Gitarrist mit dem Live-Schlagzeuger von Intronaut, Matt Lynch, mit Plini an der zweiten Gitarre sowie mit Sänger Max Phelps (Live-Sänger für Defeated Sanity, Death DTA) und mit Dave Mackay, der mit seinem Spiel am Bass-Synthesizer die tiefen Frequenzen auf „Ascension Codes“ auslotet. Gemeinsam mit diesen Gastmusikern hieven die beiden festen Bandmitglieder Masvidal und Lynch CYNIC in eine neue, überraschend psychedelische Schaffensstufe.
Nachdem das vorherige Album bereits eine starke Tendenz hin zu träumerischer, behutsamer Prog-Musik zeigte, koketteren CYNIC nun völlig offen mit dieser Vorliebe und geben ihr die Hauptrolle in „Ascension Codes“. Denn dieses Album ist mehr Ambient als Prog, mehr ein übersinnlicher Rausch als technisch versiertes Gefrickel an den Instrumenten. CYNIC weben die Prog-Elemente ihrer Musik in ein dichtes, hochgradig atmosphärisches Geflecht aus Synths und Keys, obgleich sie den Bogen dabei nicht überspannen. Immer dann, wenn sich „Ascension Codes“ in der musikalischen Transzendenz zu verlieren scheint („DNA Activation Template“), greift das Duo Masvidal und Lynch noch rechtzeitig ein, um mit einem virtuosen Spiel an Gitarre und Schlagzeug den Track noch etwas Handfestes zu verleihen.
Zur Freude der weniger spirituellen Zuhörer sind die sphärischen Parts und die Prog-Songs nachvollziehbar getrennt, sodass das jeweils Unliebsame bequem geskippt werden könnte: Nach jedem instrumentalen, durchweg futuristisch und irgendwie extraterrestrisch klingenden Interlude schließt sich ein Prog-Track ein – Prog-Songs, die von dem nunmehr 50-jährigen Masvidal geschrieben wurden, aber dennoch vitaler klingen als „Aphelion“ und mehr Herz besitzen als „A View From The Top Of The World„. Denn anders als andere Größe der Szene haben CYNIC sympathischerweise nicht den Drang, ihr phänomenales Können sekündlich zur Schau stellen zu müssen, wodurch „Ascension Codes“ ein greifbares Stück Musik geworden ist, dem es gelingt, beim Zuhörer anzukommen („Diamond Light Body“) – auch dank der neun Interludes, die zwar übersprungen werden können, aber nicht sollten. Sie verleihen der Platte diesen Alles-ist-im-Fluss-Charakter, der zugegebenermaßen Geschmackssache ist, aber keine Selbstverständlichkeit im Prog-Bereich. Apropos progressive Musik, wer hätte gedacht, dass das Spiel eines Bass-Synthesizers im direkten Duell mit der Gitarre so gut aufgehen könnte wie in „The Winged Ones“? Ein fantastischer Song, der nur wenige Minuten später von dem Wirbelwind namens „Mythical Serpents“ übertroffen wird. Besonders in diesem Track wird einmal mehr deutlich, wie stark Matt Lynch die Drum-Sticks beherrscht – ein zu Unrecht unter dem Radar agierender Schlagzeuger.
CYNIC präsentieren sich anno 2021 mit der Spielwut junger Talente und mit der Erfahrung von älteren Prog-Komponisten. Beides ergibt ein unkonventionelles, aber durchdachtes Album. Die Songs auf „Ascension Codes“ dürften für das ungeübte Ohr noch überladen klingen, hingegen Genre-Liebhabern unzählige Möglichkeiten geboten werden, immer neue Strukturen zu entdecken. Ambitioniert und großartig, vielleicht sogar das Beste, was CYNIC bisher auf Albumlänge hervorgebracht haben.
Wertung: 9 / 10