Review Converge – Jane Doe

Chaos [….], das; – (wüstes Durcheinander, Auflösung aller Ordnung)

Alle paar Jahre erscheint ein Album, dass die Musikszene prägt, ihr als Antipode dient, diese auf den Kopf stellt, vor den Kopf stößt – zumindest aber bewegt und definitiv als etwas Herausragendes angesehen wird, sei dies nun positiv oder negativ. 2001 erschien eines dieser Alben – ein Album, über das schon unzählige Worte verloren wurden, zu dem eigentlich alles gesagt erscheint, welches sogar auf den etlichen Listen der besten Alben der 00er Jahre aufzutauchen und diese sogar anzuführen im Stande war. Ein Album, welches von vielen Menschen geliebt, und eine Band welche von vielen Menschen als purer Krach abgetan wird. Ein Album, das in seiner Konsequenz, in seiner Komposition, in seiner Emotionalität, in seiner Poesie und in seiner schieren Wucht nahezu unmöglich zu überbieten ist: CONVERGEs Meisterwerk „Jane Doe“.

Wie kann ein derartiger Brocken Musik derartige Reaktionen hervorrufen, wie kann ein solch krankenhausreifer Schlag in die Magengrube solche Lobeshymnen auf sich ziehen? Noch niemals wurden Gefühle auf eine derartige Art und Weise in Musik und in Worte gegossen, weder davor, noch danach. Dies wird bereits im Atem raubenden Opener „Concubine“ deutlich. Fünfzehn Sekunden lang wird man vorsichtig auf den folgenden Horrortrip vorbereit: eine dissonante Gitarrenmelodie ertönt, gefolgt von einem wahnsinnig gewordenen Schlagzeug, das sich in Trommelwirbeln und Taktverschiebungen verliert, um schließlich nach einem kurzen Trommelwirbel alle Tore zur Hölle aufzustoßen. Jacon Bannons Stimme klingt nicht mehr menschlich, ist durch die Produktion noch einmal verzerrt, und erscheint nur noch als ein ein hohes, nahezu unhörbares Kreischen, das sich über ein Grindcore ähnliches Dauerfeuer legt. Es folgen Breaks, technisch auf höchstem Niveau, beinahe undurchschaubare Rhythmiken und Tonfolgen und schließlich, nach 68 Sekunden, wenn „Concubine“ mit einem Feedback-Quietschen beinahe nahtlos in das nicht minder mitreißende „Fault And Fracture“ übergeht, entscheidet sich, ob man dieses Album entweder schleunigst aus seiner Anlage entfernen, oder für die folgenden 50 Minuten mit offenem Mund vor dieser sitzen wird.

Bereits der Name des Albums impliziert das dahinter liegende Konzept: Als weibliches Pendant zu „John Doe“, dem englischsprachigen Äquivalent zu „Max Mustermann“, wird hier eine Beziehung besungen. Oder besser gesagt, das was von dieser Beziehung übrig ist: Ein zu Staub zermalmter, blutiger Haufen Scherben. Jacob Bannon hat sich diesen mit großen Löffeln in den Rachen geschoben, und peitscht mit seiner sich überschlagenden, gepressten, verzweifelten, kreischenden, brutalen, von Hass und Angst erfüllten Stimme jeden Song voran. Dass er sich auch für die sehr persönlichen Texte verantwortlich zeichnet ist hier selbstverständlich. Dass diese ohne ein Textblatt nahezu unverständlich sind ebenfalls: Während viele Hörer „Jane Doe“ als reinen Krach abtun, und das Gequietsche von Bannon als vollkommen talentloses Geplärre abtun, liegt hier in jeder Silbe, in jedem Moment pure, ungefilterte, rohe Emotion. Es muss so sein, dass diese weh tut, und erst bei genauerem Hinsehen, eben auch durch die Lektüre der Texte, offensichtlich wird. Das Booklet, ebenfalls unvergleichlich von Bannon designt, trägt seinen Teil zur Gesamtkonzeption bei: Die Texte sind bruchstückhaft, teilweise von Schatten, von Haaren, von Dreck, von Scherben überdeckt, Zeilen gehen teilweise ineinander über und machen es unmöglich sie genau zu lesen. Wenn man sich dazu durcharbeitet, und die Spuren dieser Zerstörung verfolgt hat, wenn man versteht, dass hier beide Teile der ehemaligen Beziehung über ihre Gefühle und ihre Rollen singen, dann kommt man allmählich dort an, wo einen dieses Album hinführen will. Im dreckigen, schwarzen Aschenbecher des Herzens. Diese Musiker treibt auch in ihrer Verzweiflung nur eines an: Liebe. Dass sich diese im Fall von „Jane Doe“ von ihrer dunkelsten Seite zeigt, macht dies nur umso glaubwürdiger und mitreißender.

Die Musik, die diesem Album Ausdruck verleiht, könnte hier kaum extremer sein. Ja, manchmal kommen einige Melodien an den Vordergrund, doch es dominieren immer extremste Verzerrung, es dominieren Dissonanzen und harte Rhythmen. Ob das Pendel hinsichtlich der Geschwindigkeit wie beim Opener oder dem treibenden „Homewrecker“ zwischen Hardcore, Grindcore, Metal und Punk hin und her schwingt, oder ob es wie im sich ätzend und träge voranschleppenden „Hell To Pay“ kaum von der Stelle lösen kann, ist für die Wirkung der einzelnen Songs für sich genommen hinsichtlich ihrer Stimmung vollkommen egal. Es tut weh, egal ob man mit Vollgas gegen eine Wand rennt, oder langsam auf rostigen Nägeln entlang geschleift wird. In ihrer Kombination ergeben die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die unterschiedlichen Arten das Leiden und die Verzweiflung hinaus zu schreien und zu pressen allerdings ein alles zermalmendes, mitreißenden, sprachlos machendes Narrativ. Auch wenn die Texte essenziell notwendig sind, um die gesamte Macht dieses Albums zu erfassen, so ist alleine durch die Musik und den Klang von Bannons Stimme klar, worum es in diesen Songs geht. Sei es das sich immer wieder überschlagende Schlagzeugspiel von Ben Koller, welcher zwischen brutalsten Rhythmuswechseln und kaum nachvollziehbaren Trommelwirbeln bis hin zum straighten Hardcore Geballer alles aus seinen Fellen und Becken holt, die verzerrte, sich schwindlig spielende und Riffs schrubbende Gitarre von Kurz Ballou, der dreckige Bass von Nate Newton, die mindestens ebenso brutalen, tieferen Backing Vocals der beiden – es gibt nichts an diesem Album, was nicht noch eine tiefere Schicht hätte, und bis ins letzte Detail in sich stimmig ist.

Einzelne Songs herauszupicken ist in diesem Konzept beinahe unmöglich. Dennoch sind es vor allem die großen Eckdaten, welche bezeichnend für „Jane Doe“ stehen. Der bereits erwähnte Opener „Concubin“ steht in seiner Kürze, Prägnanz und Gewalt für sich. Den Mittelpunkt bietet das bittere, beinahe im klassischen Hardcore-Stil gehaltene „The Broken Vow“, welches sich spätestens in der von allen Mitgliedern gebrüllten Klimax „I’ll take my love to the grave“ vollständig selbst zerfrisst. Der Weg bis dorthin ist bereits steinig und blutig, der Weg nach dieser Ansage wird nicht minder einfach, und es gibt keinen Song der hinsichtlich seiner Qualität abfallen würde. Und doch gipfelt das Album schließlich im mindestens epischen, doch auf keinen Fall erlösenden Titeltrack „Jane Doe“. War der Einstieg lediglich 68 Sekunden lang, und spielen sich die meisten Lieder zwischen 3 und 4 Minuten ab, gipfelt hier der gesamte vorhergehende Wahnsinn in einem zwölf minütigen Monster von Song, der dem Hörer alles abverlangt. Als hätten sie in Teer gebadet, schleifen sich CONVERGE durch diesen Song hindurch, Jacob Bannon singt in den kurzen, wiederkehrenden Refrain ähnlichen Teilen beinahe eine klare Melodie, nur um wieder in seine ätzenden kreischenden Tonlagen zurückzufallen – bis sich schließlich nach knapp der Hälfte des Songs alle Instrumente in unvorstellbare Bereiche emporschrauben, von welchen ein letztes Mal der Blick auf die zerrüttete, zerstörte Beziehung zurück geworfen wird: „Run on, girl – run on.“ Dass das Album nicht mit einem großen, erlösenden Knall endet, sondern sich in einem Nebel auflöst und ins Ungewisse steuert ist hier nur folgerichtig.

Das Artwork, die Texte, die Musik, das Konzept – es gibt nichts, absolut nichts an diesem Album, das man besser machen könnte. CONVERGE haben in ihrer nun schon über gut 20 Jahre andauernden Laufbahn kein einziges schlechtes Album veröffentlicht, und wussten auch zuletzt mit dem eher Metal-lastigen „Axe To Fall“ vollauf zu begeistern. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass jeder, absolut jeder Fan härterer Musik nicht an diesem Ungetüm von Album vorbeikommen kann und darf. Und jeder Mensch, der sich auch selbst Mensch nennen will, und einen Funken Liebe und Emotion in sich hat, kann von „Jane Doe“ nicht unberührt bleiben. CONVERGE haben ein zeitloses, brutales und unvergleichliches Meisterwerk erschaffen.

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