Vor mittlerweile sechs Jahren erschien unter den zahlreichen in England gehypten Alben eine kleine, verhaltene Perle, deren Wert und Bedeutung heute kaum noch jemandem bewusst ist. Der Name dieser Perle ist „Parachutes“. Es ist das Debütalbum von COLDPLAY.
Nach zwei veröffentlichten EPs sahen sich COLDPLAY bereit für die große, weite (Musik-)Welt, die sie mit ihrer Musik ein kleines Stück bereichern wollten und unterzeichneten einen Vertrag bei Parlophone, einem Seitenlabel von EMI. Aber beschäftigen wir uns nicht mit Geschäftspolitik, widmen wir uns der Musik. Den wohl vierzig schaurig-schönsten Minuten aller Zeiten. Oder zumindest einer Version davon.
Damals hat wohl noch niemand damit gerechnet, dass gerade COLDPLAY den Sprung von der hochgehobenen englischen Schülerband zur stadionfüllenden Massenbewegung schaffen würden. Und wenn man den zehn Liedchen auf „Parachutes“ aufmerksam lauscht, ist das auch kaum vorstellbar. Man sollte das Album niemals mit seinen Nachfolgern vergleichen. Natürlich passiert dies zwangsläufig, aber so wird man dem Werk nicht gerecht. Die zehn Kleinode, mit denen uns Chris Martin & Co. die Seele streicheln, haben so gut wie gar nichts mit den späteren Charthymnen der Band zu tun. Fernab jeglicher Mainstreamtrends haben die Jungs einfach Musik über das Leben geschrieben – über Gefühle, über die Liebe, über Menschen, die in unser Leben treten, dort verweilen, oder es auch schon bald wieder verlassen. Ganz bodenständige Themen also. Aber ganz wichtig: Es sind Themen, die jeden Menschen betreffen und ansprechen.
Die Musik auf „Parachutes“ bedient sich einfachster Mittel. Eine akustische oder elektrische Gitarre, ein Piano, ein sanft gezupfter Bass und – natürlich – Chris Martins einzigartige Stimme. Das reicht – alles andere wäre Kommerzialisierung, Pathos oder Kitsch. Und wenn die Musik auf Coldplays Erstling eines nicht ist, dann kitschig. Ganz sicher sind die Songs der Jungs auf instrumentaler und spieltechnischer Ebene keine Glanzstücke. Doch die Band versteht es, den Hörer auf andere Art und Weise zu begeistern und mitzureißen. Es ist die Atmosphäre, die diese Musik ausstrahlt: Diese Ruhe, die den Alltag einfach vergessen machen. Die einfachen Gitarrengriffe, die eine nahezu magische Wirkung haben. Diese einsamen Klavierakkorde, die Gefühle vermitteln, die man sofort am eigenen Körper spürt. Das fast streichelnde Schlagzeug. Und dann diese Lyrics. Die analoge Produktion trägt dabei sicherlich zu der Wärme der Musik bei.
Du hast das Gefühl, mit Coldplay ganz allein zu sein. Sie sind nur für dich da. Sie spielen nur für dich. Und: Sie singen über dich! Draußen ist es kalt und windig, der erste Schnee kündigt bald die Ankunft des Winters an. Es ist schon dunkel. Du zündest ein paar Kerzen an, legst „Parachutes“ in den CD-Player, verschließt deine Tür, um von der Außenwelt abgeschottet zu sein. Und dann kuschelst du dich ins Bett. Du fühlst dich so allein. Du verstehst die Welt nicht mehr. Warum muss das bloß alles so schwer sein? Warum muss es immer mich treffen? Bin ich der einzige Mensch dieser Erde mit solchen Problemen? Wie soll es bloß weitergehen?
Doch noch während du den Tönen des Openers „Don’t Panic“ lauschst, weißt du, dass du nicht allein bist. Diese Jungs singen von deinen Problemen. So echt, lebendig und zum Anfassen nah, dass du fast weinen musst. Doch sie trösten dich auch. „We live in a beautiful world“, singt Chris Martin einschmeichelnd und leise, zarte Gitarrenlinien lassen dich träumen. Stimmt, die Welt ist schön. „And, yeah, everybody here has got somebody to lean on…“ – du wünscht dir, du kannst glauben, was Chris Martin da singt. Dann wirst du plötzlich aufgerissen und es schüttelt dich. „Shiver“ umgarnt dich mit einer stürmischen Gitarrenmelodie, doch bald kehrt die Ruhe wieder ein und Chris erzählt die Geschichte weiter. „So I look in your direction, but you pay me no attention, do you?“ – „From the moment I wake to the moment I sleep, I’ll be there by your side“ – „I’ll be waiting in line“ – „So you know how much I need you, but you never even see me, do you?“ – „Shiver“ lässt genau den Wirbelsturm auf deine Gefühle los, den du auch spürst, wenn du ihr gegenüberstehst. Du weißt schon, dieses flaue Gefühl und diese „Schmetterlinge im Bauch“. Nach fünf Minuten hast du dich wieder beruhigt. „Spies“ beginnt mit lyrischen Gitarrentupfern, trumpft mit einem großartigen Refrain auf und gipfelt in einem aufregenden Mittelteil. Der Song erinnert dich an alte Porcupine Tree-CD’s wie „Lightbulb Sun“ oder „In Absentia“, die du ebenso durchlebt hast. Wunderschön!
„Sparks“ ist dann doch arg melancholisch, ganz schön harter Stoff. Obwohl, melancholisch sind die Songs auf „Parachutes“ doch eigentlich fast alle. „And I promise you this, I’ll always look out for you“ – „My heart is yours, see that I hold on to you, yeah, that’s what I do“ – „I know I was wrong, but I won’t let you down“. Du vermutest, hier geht es um ein zerstrittenes Paar. Ein Lied, in dem eine Seite wieder zur anderen finden will. Auch wenn es dich diesmal nicht direkt betrifft, du kannst dich den Zeilen von Chris Martin einfach nicht entreißen. Doch insgeheim freust du dich schon auf das nächste Lied. Das wohl schönste Liebeslied aller Zeiten. Eine Ode an das Leben in all seiner Schönheit. Und auch das einzige Lied auf „Parachutes“, dass immer gute Laune und positives Denken ausstrahlt. Danach geht es dir gleich besser. Manchmal hast du es ganz oft hintereinander gehört und dir gewünscht, alles wäre einfacher. „Yellow“ ist ein Lichtblick im Dunkeln, ein Mutmacher für alle Schüchternen, ein poetisches Meisterwerk. „I came along, I wrote a song for you, and all the things you do, and it was called „Yellow““ – „You’re skin, oh yeah your skin and bones […] and you know, you know I love you so“ – mit der finalen Botschaft „Look at the stars, look how they shine for you and all the things we do“ geht dieses Lied zuende und du weißt, dass es genauso einzigartig ist wie sie. Mit „Trouble“ folgt nun eine lupenreine Pianoballade mit unglaublich metaphorischem Text, die später um ein paar Akustikgitarrenakkorde und einen E-Gitarren-Teil erweitert wird. Der Titeltrack „Parachutes“ bringt es nur auf eine Spielzeit von gerademal 46 Sekunden, dürfte aber auch kein Stück länger sein. Hier brauchen Coldplay nur eine Akustikgitarre und Gesang, auf Schlagzeug und Bass verzichtet man. Soetwas gehört eigentlich ins Tagebuch. „In a haze, a stormy haze, I’ll be round, I’ll be loving you always, always…here I am and I take my time, here I am on a radiant line always, always…“
Die letzten drei Stücke „High Speed“, „We Never Change“ und „Everything’s Not Lost“ stehen dem zuvor gehörten in keinster Weise nach. Der nicht auf der CD aufgeführte Bonustrack „Live Is For Living“ setzt nochmal einen harmonischen Schlusspunkt. Du weißt nicht warum, aber du fühlst dich jetzt besser. Du hast das Gefühl, verstanden zu werden. Als hättest du mit jemandem geredet. Und dieses Gespräch mit COLDPLAY hat dir sehr gut getan. Denn auch dein Gegenüber hat dir seine Geschichte erzählt. Du weißt jetzt ganz sicher, dass du mit deinen Sorgen nicht allein bist. Und das es immer eine Lösung gibt.
Keine Frage: „Parachutes“ ist eine der besten Platten für (unglücklich) verliebte Menschen. Eigentlich alle Lieder sind dafür wie gemacht. Sie sind allerdings auch sehr traurig und langsam, im Grunde sind hier nur Balladen versammelt. COLDPLAY wollen euch trösten. Die Songs des Albums sind mit Sicherheit nicht für Partys gemacht, haben eine fast befremdlich tiefgehende Wirkung, die Coldplay so auch nie mehr auf den zwei Nachfolgewerken aufrechterhalten konnten bzw. haben. Die ganze Platte zeichnet sich durch unheimliche Nähe und Intimität aus und wirkt im Grunde genommen fast wie ein Livekonzert. Roh, echt und authentisch! Die Tracks regen zum Nachdenken und Schwelgen an. Sie verändern zwangsläufig den Gefühlszustand des Hörers. Sie sind nicht bloß pure Unterhaltung, wie sie auf späteren Coldplay-Alben schon eher zu finden ist. Lediglich „Yellow“ schlägt die Brücke zu späteren Songs wie „In My Place“ oder „Speed Of Sound“, dies jedoch auf eine so gelungene und schlicht bewegende Art und Weise, dass es tatsächlich wie ein Monolit aus dem übrigen Songmaterial herausragt. Es macht nicht traurig, es tröstet nicht, es macht tatsächlich Mut! Natürlich muss man als Hörer damit umgehen können. Es kann sehr gut sein, dass ihr einen kompletten Durchlauf nicht durchsteht, weil euch die Musik zu nahe geht.
Ich wünsche mir jedenfalls, dass ihr euch die Platte einmal anhört. Der Titel des Werks passt übrigens hervorragend. „Parachutes“ heißt zu deutsch Fallschirm. Und mit dem landet man bekanntlich sanft und leicht auf dem Boden. Er fängt eure Gefühle auf. Die hier dargebotene Traurigkeit habe ich persönlich nie als bitter empfunden, sondern immer als aufrichtend, eine Art „trostspendendes Leiden“, wenn man so will. Ich hoffe für euch, dass ihr aus dieser Musik aber auch Kraft schöpfen könnt, auch wenn das nicht so einfach ist. Auch für die ruhigen Stunden zu zweit ist sie mit Sicherheit gut geeignet. Ich habe allerdings auch schon mit Menschen gesprochen, die sie schlicht für langweilig und einschläfernd halten.
Ich persönlich sehe in „Parachutes“ jedenfalls die zeitloseste COLDPLAY-Platte bisher. Und das wird sie wohl auch immer bleiben – eine Perle!