Review Carpe Noctem – Vitrun

  • Label: Code666
  • Veröffentlicht: 2018
  • Spielart: Black Metal

Setzt man sich einige Zeit lang mit extremer Musik auseinander, wird man früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit eine gewisse Ernüchterung an sich selbst bemerken. Fans von modernen Extreme-Metal-Gruppen wie Anaal Nathrakh oder Archspire, die das allgemeine Verständnis von brachialer Musik immer wieder infrage stellen, dürften es wohl amüsant finden, dass es mal eine Zeit gab, zu der Metallica in dieser Hinsicht unübertroffen waren. Dennoch tun sich auch heute noch dann und wann Bands hervor, die die Grenzen klanglicher Brutalität nicht nur ausloten, sondern sogar erweitern. Wer an dieser Stelle wohlwollend an Deathspell Omega denkt, sollte unbedingt auch CARPE NOCTUM auf den Zahn fühlen. „Vitrun“, das mittlerweile zweite Album der Isländer, ist dafür die perfekte Gelegenheit.

Wer mit der Diskografie ihrer französischen Brüder im Genre vertraut ist, muss nicht lange rätseln, um zu erkennen, was die Musik von CARPE NOCTEM auszeichnet: Dissonanzen. „Vitrun“ mag beileibe nicht die erste Platte sein, auf der misstönende Klänge das Mittel zum Zweck sind, dennoch ist es faszinierend, wie sich das Quintett jenes bizarre Stilmittel im konkreten Fall zunutze macht. Im Zusammenspiel fühlen sich die feindseligen, zwischen Screams und Growls angesiedelten Schrei-Vocals, die grauenerregenden, infernalischen Riffs und die tollwütig tobenden Schlagzeugrhythmen wie ein alles verschlingender Mahlstrom an, der einen ohne Zwischenstopp in den tiefsten Kreis der Hölle hinabzieht.

Der schwarz-weiße Albtraum, der auf dem hypnotischen Artwork abgebildet ist, wird auf „Vitrun“ zur akustischen Realität. Doch CARPE NOCTEM haben weit mehr vorzuweisen als nur übel klingenden Lärm. Das Chaos hat hier nämlich System, der Wahnsinn Methode und die Isländer haben die Zügel fest in der Hand. Völlig gleich, wie weit es die Black-Metaller bei der Vertonung ihrer finsteren Vision auch treiben mögen – man höre sich bloß das aberwitzige Shredding auf „Og Hofið Fylltist Af Reyk“ an –, nicht ein einziges Mal verlieren CARPE NOCTEM dabei die Kontrolle.

Gerade die besagte Nummer offenbart außerdem, dass „Vitrun“ in seinen gemäßigteren Momenten nicht das kleinste Stück Eindringlichkeit abhanden kommt. Ganz im Gegenteil: Hätten CARPE NOCTEM auf die schleifenden Doom-Einlagen, die unheimlichen Dark-Ambient-Sounds mit ihren metallisch scharrenden Geräuschen und Keyboards sowie auf die ausgesprochen interessanten Psychedelic-Untertöne („Sá Sem Slítur Vængi Flugunnar Hefur Náð Hugljómun“) verzichtet, wäre ihnen wohl kaum ein derart eindrucksvolles und verstörendes Klangkunstwerk gelungen.

„Vitrun“ ist definitiv keine Platte, deren Langzeitwirkung auf Eingängigkeit oder Zugänglichkeit beruht. Gleichwohl schaffen es CARPE NOCTEM, darauf die beiden Problempunkte zu umschiffen, an denen vergleichbar herausfordernde, ungewöhnliche Veröffentlichungen oft zugrunde gehen. Zum einen erwecken die sechs Stücke trotz allen Wahnsinns zu keiner Zeit den Anschein von Beliebigkeit, zum anderen bietet die mächtige, aber stets ausgewogene Produktion keinerlei Angriffsfläche für Kritik. Demzufolge kann man „Vitrun“ nur als herausragendes Beispiel grenzüberschreitender, extremer Tonkunst betrachten, das CARPE NOCTEM als Meister ihres Fachs ausweist. Wer sich nicht davor scheut, tief in den Abgrund zu schauen, sollte hier mehr als nur einen Blick riskieren.

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Wertung: 8.5 / 10

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