Zugegebenermaßen ist es schon ein paar Jahre her, die Veröffentlichung des besten tschechischen Albums aller Zeiten verdient aber dennoch ein gewisses Augenmerk. Schließlich hat sich der Schöpfer auch einige Zeit genommen, Zeit, die ihm im heutigen schnelllebigen Wandel der Welt kaum zur Verfügung gestanden hätte. Stolze viereinhalb Jahre komponierte BEDRICH SMETANA an seiner sinfonischen Dichtung „Ma Vlast“, bis der komplette Zyklus 1882 in Prag uraufgeführt werden konnte. Eine genaue Bedeutung von „Ma Vlast“ gelingt im Übrigen gar nicht so leicht, gemessen an den politischen Gegebenheiten der damaligen Zeit ist die (gängige) Übersetzung „Mein Vaterland“ zwar reichlich vage – und dem Inhalt auch nicht in allen Belangen entsprechend – aber vermutlich immer noch am griffigsten gewählt. Politische (Tschechien ist ja bekanntlich katholisch, dennoch haben sie ihre Republik den Hussiten (evangelisch!!) zu verdanken) und religiöse (Antonin Dvorak, der andere große tschechische Komponist dieser Tage lässt grüßen) Gründe im damals durch die Schwächung durch die konfessionellen Konflikte in Verbindung mit dem zunehmenden Einfluss der Habsburger zerrütteten Böhmen mögen zu diesem Widerspruch geführt haben, der sich zwar auf der einen Seite im Bezug auf SMETANA nicht ohne weiteres auflösen lässt, laut mehrere Biographen aber nicht einen so großen Stellenwert hat, dass er weiter diskutiert werden müsste.
Die unglaubliche Wirkung, die dieser Themenkreis entwickelt, gewinnt nicht zuletzt dadurch enorm an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass der Komponist fast während der gesamten Arbeit völlig taub war (hier lässt sich eine Parallele zum Genius Ludwig van Beethoven ziehen), man bekommt hier einige der ergreifensten Melodien zu hören, die jemals geschrieben wurden. Und dies von einem ordentlichen Mann mit Nickelbrille und Vollbart, welcher in seiner strengen Erhabenheit sicher einem Volksschullehrer der damaligen Zeit recht nahe kommt. Dies würde dem unglaublich versierten, vielseitigen Komponisten aber nur unzureichend gerecht werden, verbirgt sich hinter dem stillen Wesen doch ein wacher Geist voller emotionaler Größe, die im Prinzip erst mit ihrem Gesamtwerk ihre volle Offenbarung findet. Wie jedoch nähert man sich einem solchen Meisterwerk, welche Worte findet man, um einer Musik, die heute und jetzt wohl für immer auch unerreicht bleiben wird? Am besten lauscht man zunächst ergriffen den Klängen, Klänge, die zu Beginn des Zyklus aus der Harfe Lumirs erklingen und den Hörer in eine fremde, aber dennoch nicht unbekannte Welt entführen. Schnell wird man heimisch in den eingängigen Melodien, die rasch in eines der wichtigen Hauptthemen einleiten. Dieses sogenannte „Vysehrad-Motiv“ verbindet quasi als Einziges alles sechs Teile von „Ma Vlast“, obwohl es nach dem Willen des Komponisten zunächst nur vier Teile sein sollten. Glücklicherweise kam es jedoch zur Ausweitung auf die heute gängigen sechs Stücke, bei welchem „Vysehrad“ freilich eine Sonderstellung einnimmt. Gleichwohl war es damals noch nicht so wie heute, dass ein potentieller Hit möglichst weit vorne platziert wurde, um den kurzangebundenen Hörer zu einer raschen Kaufentscheidung zu verleiten. Dennoch zwingt gerade dieses „Vysehrad“-Motiv den Konsumenten in eine eigenartige, aktiv-passive Haltung, welche weder ein Abschalten der Musik noch eine Auskehr aus einer möglichen – gewollten oder ungewollten- Phase unerklärlicher Manie erlaubt.
Doch was ist „Vysehrad“ (der Radschinn) eigentlich? Jeder, der nach Prag kommt, sieht über die Stadt eine wuchtige Burg thronen. Das ist zwar eindrucksvoll, die wahre tschechische Geschichte spielte sich aber in Vyserahd ab, einer kleineren Burganlage, der Smetana das größte Opus auf Ma Vlast widmete. Denn die Geschichte der Burg ist ebenso bewegt wie die Melodien, die im Mittelteil nur so herausfeuern. Dabei ist es völlig unerheblich, ob es sich um jene schwelgenden Töne handelt, die in ruhigen Passagen die Erhabenheit des Bauwerkes umreißen oder um das plötzliche Zusammenstürzen der Burg, welche in einer dramatischen Akkordfolge dem Erdboden gleichgemacht zu werden scheint. Einzig das unglaubliche Finale mit dem Eintreffen der Moldau in Prag und aller dazugehörigen Majestät vermag es, dem vor Einfallsreichtum schäumenden Ozean der Größe noch eine Krone aufzusetzen. Fast schüchtern klingen Lumirs Harfenklänge, ja, in der Ewigkeit, denn dort scheinen sie geboren, dort werden sie enden. Wahnsinn, wie sich SMETANA diese Arrangements scheinbar einfach aus dem Ärmel schüttelt. Auch wenn einige dieser Melodien im weiteren Verlauf hinreichend Anwendung finden, eine Viertelstunde mit einer dermassenen Bildgewalt muss man erst einmal kreieren, da helfen heutigen „Masterminds“ auch keine Ausreden mehr. Doch damit nicht genug, mit „Vltava“ (Die Moldau) folgt das vermutlich bekannteste Stück von BEDRICH SMETANA, denn wer kennt sie nicht, die fließenden Motive der Flöte, welche Tschechiens berühmtestes Orchesterwerk einleiten? Ob man nun die Augen schließt oder durch sie durch die Zeit blickt, unweigerlich erschließen sich zunächst kleine Flussläufe, hier die kühle und die warme Moldau. Das folgende Moldau-Thema in Moll ist wohl der Ohrwurm der klassischen Musik schlechthin, die Streicher spielen derartig ergreifend, dass man nur in Ehrfurcht verharren kann. Meine Herrschaften, vergesst sämtliche Künstler der Neuzeit und mögen sie noch so „Metallica“, „Ulver“, „Emperor“, „Therion“ oder „Hinz-und-Kunz“ heißen, hier wurde Musikgeschichte geschrieben, Punkt und Aus!
Die weiteren Motive dürften hinlänglich bekannt sein, der vollständigkeithalber seien die wichtigsten Aspekte dennoch erwähnt: die Jagdfiguren, welche sich im Fließen des nunmehr gewachsenen Flusses ergeben, die Bauernhochzeit in Form einer Polka, welche zum ersten Mal eine Form von Heiterkeit versprüht, welche den Komponisten heute vermutlich in die Nähe von Spaßpunkern wie den Ärzten rücken würde. Die nächtliche Romantik, welche SMETANA eigentlich nicht so auf den Leib geschrieben war, zeigt Pracht und Mystik der tschechischen Märchenwelt, die über das Ausgangsmotiv in die markerschütternden Stromschnellen münden, um schließlich erneut über das Moldaumotiv in die Stadt Prag mit der mächtigen Burg Vysehrad einzufließen, nicht ohne auch dieses fantastische Stück noch einmal aufzugreifen. Das zuvor veränderte Moldaulied in Dur, angeblich dem Kinderreim „Alle meine Entchen“ nachempfunden, sicher jedoch durch SMETANAs Besuch in Schweden (genauer: dem schwedischen Volkslied „Ack Värmeland“ entliehen) inspiriert, zeigt in schierer Einfachheit die Genialität des Komponisten. „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“ oder „Wer es besser kann, der kritisiere“. 19 lumpige Tage benötigte SMETANA lediglich für dieses zwölfminütige Stück Musikgeschichte, dennoch musste er neben die letzten Notenzeilen eine traurige Notiz schreiben: „Ich bin völlig taub“. Doch gerade dieser Umstand scheint ihm diese Flügel verliehen zu haben, es muss gleich einem Sylvester-Feuerwerk aus ihm herausgesprudelt sein.
Trotz aller vermuteten Heimatliebe, ein reines Volksmusik-Album ist „Ma Vlast“ nicht. Vielmehr greift es unterschiedliche Themen der tschechischen Geschichte auf. „Sarka“ ist da nicht das schlechteste Beispiel, kurz gefasst handelt es sich um eine Sagenerzählung der Amazonin „Sarka“, welche aufgrund einer unglücklichen Affäre der gesamten Männerwelt Rache geschworen hat, ein Stoff, welcher schon von Leos Janacek in einer Oper verarbeitet wurde. Die Geschichte, welche natürlich in musikalischen Bildern exorbitant dargestellt wird, ist eine Interessante für sich: der heftige Gefühlsausbruch zu Beginn, die scheinbar an einen Baum gefesselte Schönheit „Sarka“, der arme Reiter Ctirad mit seiner Armee, welcher der Schönen rasch verfällt, die Rache der Amazonen in einem genüsslichen Crescendo der Hörner. Der Meinung von Kritikern, dass SMETANA sich in diesem Stück sehr diszipliniert hat und weder eine Note zuviel, noch eine Note zuwenig geschrieben hat, vermag ich mich nicht unbedingt anschließen: meiner bescheidenen Meinung nach hat SMETANA ohnehin alles richtig gemacht, das Ganze in einzelnen Noten aufzuwiegen macht einfach keinen Sinn. Im Klartext: hätte der Komponist es gewollt, hätte er auch eine weitere Note oder auch mehrere geschrieben und dennoch hätte es niemanden gestört.
Gibt es überhaupt die Möglichkeit, dass auf „Ma Vlast“ ein Stück von nicht so überirdischer Qualität vorhanden ist? Ich bin beinahe geneigt, „Jein“ zu sagen; „Aus Böhmens Hain Und Flur“ ist alles andere als ein langweiliges oder gar schlechtes Stück, aber dennoch für mich das am wenigstens süchtig machende des Zyklus. Warum eigentlich? Nun, so genau weiß ich es nicht und mit einem Blick auf zeitgenössisches Musikkritiken stehe ich mit dieser Meinung wohl auch ziemlich alleine da. Vielleicht ist es doch etwas zu sehr in die ruhige Einsamkeit der böhmischen Wälder getaucht, mir fehlt einfach etwas der Pep, welcher die anderen Lieder ausmacht. Selbstverständlich kann man nichts oder nicht viel mit heutigen (Metal-) Stücken vergleichen, insgesamt ist mir hier aber zu oft die Stille – präziser: das Leise – Trumpf, einzelne Ausbrüche vermögen diesen ganz leicht eingetrübten Gesamteindruck aber nicht zu übertünchen. Wer sich jetzt erdreistet und SMETANA hier einen Strick drehen will, darf sich des Unverständnisses Vieler gewiss sein, wer kann hier nur bestehen?
„Tabor“ ist keine Schlachtenmusik. Gut, das muss man erstmal wissen; denken wir uns kurz in die Einleitung zurück, hier ist die Rede von religiösen und politischen Widersprüchen im Schaffen SMETANAs. Die taboritischen Kämpfer spielten desöfteren in Tschechiens Geschichte eine gewichtige Rolle, ohne jetzt hier auf Einzelheiten einzugehen. Motive der vorangeschrittenen Teile finden sich hier ebenso wie SMETANAs „härteste“ Passagen dieses Schaffens. Wie oft habe ich gedacht, `schade, dass SMETANA nicht heute lebt; drückt ihm eine E-Gitarre in die Hand und Ihr werdet unglaublich intensive Klänge erleben, zu welchen heute wohl niemand mehr in der Lage ist`. Man könnte also meinen, dass hier Old-School-Metal wahrlich im aller wahrsten Sinn des Wortes geboten wird, vermutlich ist es auch das Stück, welches dem geneigten Metaller aufgrund seiner Heftigkeit am besten gefällt.
Im Gegensatz zum Eingangsstück „Vysehrad“ ist es hier jedoch möglich, die historischen Stätten zu besuchen und in ihrer vollkommenen Erhabenheit begutachten zu können, denn die Stadt „Tabor“, in etwa südlich von Prag gelegen, ist heute noch fast vollständig erhalten und ein Besuch soll sich absolut lohnen. Nun, dies mag jeder für sich zu entscheiden, wie auch, ob der Konsum von „Ma Vlast“ nun auf den Speisezettel eines jeden Musikliebhabers gehört. Für mich steht diese Entscheidung natürlich fest, zumal auch der „Rausschmeißer“ „Blanik“ noch einmal alle Künste des Komponisten offenbart. Es handelt sich hierbei um einen Berg, in dem eine gewaltige Heeresschar ruht, um Tschechien in seinen schwersten Stunden beizustehen – die Parallele zum deutschen Kyffhäuser ist in der Tat frappierend. Den hussitischen Hintergrund löst SMETANA hier auf eine einfache wie geniale Art und Weise: das Motiv, welches „Tabor“, insgesamt mit der gleichen Thematik betraut, beschließt, eröffnedt „Blanik“ in neuer Pracht. Auf der einen Seite könnte man meinen, dass es sich noch um das gleiche Lied handelt, andererseits wird aber sehr schnell klar, dass dies keineswegs so ist: „Blanik“ donnert eigenständig durch das (musikalische) Land, der Choral „Da Ihr Gottes Krieger seid“ hallt aus den Boxen, dass es eine Freude ist. Die schmetternden Akkorde im Schlusspart beschließen somit würdig ein Werk, welches heute vielleicht von zu wenigen verstanden wird, denen, die sich ein wenig Zeit nehmen, um die geniale Wucht zu erkunden aber ein Hörerlebnis der allerersten Güte vermittelt. Hier liegt ein Stück Musik, welches ausnahmslos jeder zumindest kennen, eigentlich aber auch lieben muss.
Zuletzt bleibt nur eine Frage offen: wie bewertet man einen solchen Meilenstein? An sich ist es nicht nötig, jeder sollte dies für sich selbst tun und daher tendiere ich auch dazu, objektiv auf eine Punktevergabe zu verzichten, subjektiv kann es aber kein anderes Resultat geben als
Wertung: 10 / 10