Review Atlantean Kodex – The Course Of Empire

  • Label: Ván
  • Veröffentlicht: 2019
  • Spielart: Heavy Metal

Beschreib mal Schönheit. Beschreib mal das Gefühl, wenn vollkommene Ästhetik die Sinne überwältigt. Beschreib mal das Licht, das alles Profane überstrahlt. Schnell werden die Worte dir versiegen. Sich den Emotionen, die „The Course Of Empire“ von ATLANTEAN KODEX auszulösen vermag, mit schnöden Vokabeln zu nähern, fällt deshalb schwer. „Ergriffenheit“ benennt die Regung, die sich beim Hören einstellt, wohl am treffendsten. Denn mit ihrem neuen Album haben die Männer – und seit Neuestem auch die Dame – aus dem oberpfälzischen Vilseck ein Kunstwerk erschaffen, dessen Saat gleichermaßen in Herz und Hirn aufgeht. Kitschig oder prätentiös ist die Platte dabei keine Sekunde lang.

Wer ATLANTEAN KODEX kennt und liebt, hat nichts anderes erwartet. 2005 gegründet, hat sich die Band eine Fanbase erspielt, wie es sie im Metal-Underground kaum ein zweites Mal gibt. Bereits Wochen vor der offiziellen Veröffentlichung von „The Course Of Empire“ zählen die Threads in einschlägigen Metal-Foren Dutzende Seiten. Wer die Releaseparty auf dem Storm-Crusher-Festival besucht, muss am Merch-Stand schon wenige Minuten nach Einlass lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um an die teils streng limitierten Fanartikel zu kommen. Ein Fan aus dem engeren Kreis der Band reicht Bärwurz herum – in einer selbst in Handarbeit gestalteten Flasche samt Band-Emblem und detailgetreu aus dem Booklet übernommener Zeichnung. Ein aus Thüringen angereistes Ehepaar erzählt, dass es für ein KODEX-Konzert sogar bis nach Athen reist.

Denn ATLANTEAN KODEX ist mehr als nur eine weitere Epic-Metal-Band, die irgendwie nach den Frühwerken Manowars und nach Bathorys Wikinger-Platten klingt. ATLANTEAN KODEX bietet denen Zuflucht, die in einer modernen Welt der Technokratie und der Digitalisierung, des Kapitalismus und der Globalisierung nach einem aufrichtig archaischen Gefühl suchen. Mit blindem, von reaktionären Denkmustern befeuertem Eskapismus hat das allerdings wenig zu tun. Gitarrist Manuel Trummer, der als Kulturwissenschaftler an einer Universität lehrt, bedient sich in seinen Texten zwar der Mythen, Sagen und Geschichten des antiken und des mittelalterlichen Europas, baut damit aber Brücken ins Heute – identitätsstiftend, nicht identitär.

So geht es in den Texten auf „The Course Of Empire“, die sich um das Werden und Vergehen von Imperien, politischen Systemen und Kulturen drehen, teils tagespolitisch zur Sache. Im Titelsong etwa bezieht Trummer klar Stellung zum Sterben im Mittelmeer und zum Rechtsruck in Europas Staaten: „As gold turns into brown, the autumn of an era. Our ancient harps fall silent. Twelve stars are stained in blood. The graves of mare nostrum, mother Europe trembling. And nameless ghosts of guilt haunt sanctuaries forlorn.“ Dass die Platte unter anderem dem österreichischen Schriftsteller und Pazifisten Stefan Zweig gewidmet ist, der 1934 vor den Nationalsozialisten ins Exil floh und mit glühender Leidenschaft für ein geeintes Europa warb, passt ins Bild. Allein die literarischen und historischen Bezugspunkte von „The Course Of Empire“ herauszuarbeiten, wäre ein eigenes Essay wert – was hier natürlich den Rahmen sprengen würde.

Zumal das Album auch ohne Textstudium begeistert: Allein schon die unpeinlich-pathetischen Gesangslinien von Markus Becker, der hier die mit Abstand souveränste Performance seiner bisherigen Karriere abliefert, nehmen gefangen. Durch ihre Eingängigkeit erlauben sie dem Hörer, sich in die Atmosphäre der Platte hineinfallen zu lassen, während die Instrumente teils schwere Doom-Fundamente auslegen. Schnell haften bleiben besonders die Chorus-Melodien, die gar nicht hymnisch und ausladend genug sein können. Man achte nur auf das „Holy, holy“ im vorab veröffentlichten „People Of The Moon“, das auf „The Course Of Empire“ die größten Hit-Qualitäten aufweist. Oder auf den Chorus von „Chariots“, das sich bereits als Fan-Liebling herauszukristallisieren scheint. Wer hier nicht den Drang verspürt, sich in Kriegerpose zu werfen, die Fäuste in die Luft zu recken und inbrünstig mitzusingen, hat wohl bisher nur Grindcore gehört.

Als melodischer Höhepunkt entpuppt sich jedoch ausgerechnet die mit 3.33 Minuten kürzeste Nummer „The Innermost Light“. In der Demo-Version war der Song noch als A-cappella-Stück angelegt. Seine sakrale Anmutung behält er jedoch auch mit Instrumentalbegleitung. Dass die von Bassist Florian Kreuzer diesmal noch professioneller arrangierten Chöre hier besonders in den Vordergrund treten dürfen, ist nur folgerichtig. Auch im gravitätischen „A Secret Byzantium“ sind sie ein tragendes Element. Derweil lässt manches Riff an Altmeister wie Candlemass und Solstice denken. Das verhältnismäßig harte „Lion Of Chaldea“ zollt gar dem legendären „Stargazer“ von Ritchie Blackmore’s Rainbow Tribut. Die Produktion ist der Atmosphäre sehr zuträglich. Sie kommt diesmal zwar etwas geschliffener und detailverliebter daher als auf den recht naturbelassenen Vorgängern, ist aber noch immer erdig genug, um die kodex’sche Attitüde (in etwa: „Wir kommen aus dem Underground und wollen da verdammt nochmal auch nicht weg.“) zu transportieren.

Damit gelingt ATLANTEAN KODEX, was viele kaum für möglich hielten: zum als Meisterwerk gefeierten Vorgänger „The White Goddess“ mindestens aufzuschließen. Offensichtliche Hits wie „Sol Invictus“ oder „Twelve Stars And An Azure Gown“ finden sich auf „The Course Of Empire“ zwar nicht, dafür wirkt das Album homogener, melancholischer und nochmals tiefsinniger. Längen gibt es trotz einer Spieldauer von knapp 63 Minuten nicht. Jeder Song, jedes Segment, jedes Zwischenspiel ist essenziell. Dadurch gewinnt die Scheibe an Langzeitwirkung. Und wer sich dann noch daran versucht, die literarischen, mythologischen und historischen Referenzen zu entschlüsseln, steht schon mit dem halben Bein beim Buchhändler seines Vertrauens. Schönheit, vollkommene Ästhetik und das gleißend helle Licht des Geistes, vereint auf einem Album, das gute Chancen hat, als Klassiker in die Metal-Annalen einzugehen. Welche andere aktuelle Heavy-Metal-Gruppe schafft das schon?

And in our souls we build an empire
A sacred stronghold, cathedral’s spires
A ship to speed us through this tellurian toil
Towards the hearth of ancestral fires
(aus „The Innermost Light“)

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Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Nico Schwappacher

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