Review Arjen Anthony Lucassen – Lost In The New Real

Himmelfahrtskommando

Wie kann man sich als erfolgreicher Musiker noch selbst herausfordern, wenn man schon mit so ziemlich allem, was im Rock, Metal oder Prog Rang und Namen hat, zusammengearbeitet hat? Im Falle von Ayreon und Star One-Chef Arjen Anthony Lucassen ist die Antwort eindeutig: Statt sich für seine nächste Sci-Fi-Rockoper wieder die Superstars der Szene zu holen, hat er sein neuestes Werk kurzerhand selbst eingespielt und – vor allem – eingesungen. Mit solch hochkarätigen Alben wie Ayreons „The Human Equation“ oder „Into The Electric Castle“ im Nacken, ist das ein durchaus waghalsiges Unterfangen. Den holländischen Multi-Instrumentalisten beeindruckt das allerdings nicht: „Das ist wirklich ein furchtloses Album. Es ist dermaßen vielschichtig, dass man einen offenen Geist haben muss, um etwas damit anfangen zu können“, so Lucassen im Promo-Beiblatt.

Was heißt das konkret? Zunächst einmal: Lucassen bleibt Lucassen. Die von Ayreon und Star One bekannten Zutaten sind auch auf „Lost In The New Real“ zu finden – sei es Prog, Hardrock, Folk, Metal oder Pop. Lediglich die Gewichtung hat sich geändert: Dieses Mal stehen vor allem die poppigen Momente im Vordergrund. Die Prog-, Rock- und Metalparts sind ebenfalls simpler gestrickt als bisher und kommen vor allem sehr viel flacher und glattgebügelter rüber, als wir es von dem 51-Jährigen gewohnt sind. Das ist dann aber auch schon der deutlichste Unterschied zum Großteil von Lucassens Backkatalog. Denn auch „Lost In The Real World“ erzählt wieder eine Sci-Fi-Geschichte.

Die Story der Doppel-CD dreht sich um Mr. L, einem Mann aus dem 21. Jahrhundert, der kurz vor seinem klinischen Ableben kryokonserviert und mehrere hundert Jahre später wiederbelebt und geheilt wird. Er findet sich in einer Welt wieder, die sich drastisch verändert hat – noch nicht einmal die Grenze zwischen Realität und Fantasie ist klar definiert. Mithilfe eines Psychologen versucht Mr. L sich in der seltsamen neuen Umgebung und ihren fremden Gesetzen zurechtzufinden. Und als wäre Arjen Lucassen das Unterfangen eines reinen Soloprojekts am Ende ein wenig zu heikel gewesen, hat er sich für die Rolle des Psychologen und Erzählers doch noch prominente Unterstützung ins Spaceship geholt. Niemand geringeres als Schauspieler Rutger Hauer (bekannt aus Blade Runner) führt uns durch die Geschichte. Er macht seine Sache gut, aber irgendwie bleibt der fade Beigeschmack, dass er nur dabei ist, damit man seinen Namen werbewirksam aufs Cover drucken kann.

Um mal einen Ayreon-internen Vergleich zu bemühen: Das Material auf „Lost In The New Real“ klingt – übertrieben gesagt – eher nach „Carried By The Wind“ und „Temple Of The Cat“, als nach „Day Two: Isolation“. Lucassens Gesangsleistung ist dabei sicher nicht Oscar verdächtig, aber doch wesentlich besser als bei den kleinen Auftritten, die er auf älteren Ayreon-Alben hatte. Zu keiner Sekunde der insgesamt 90 Minuten Spielzeit kommt das Verlangen nach einem Sänger oder einer Sängerin von einer Ayreon-Veröffentlichung auf.

Schade hingegen ist, dass das auf CD1 schön aufbereitete Konzept auf CD2 über Bord geworfen wird: Der zweite Silberling enthält eine wilde Mischung aus Songs für die Story, die im Nachhinein herausgelöst wurden, und fünf Covertracks. Lucassen präsentiert hier gelungene Neuinterpretationen von Pink Floyd, Blue Oyster Cult, Led Zeppelin, Alan Parsons Project und Frank Zappa. Da diese unter die Eigenkompositionen gemischt sind, entsteht ein wenig der Eindruck, der Holländer hätte nicht genug Material für ein Doppel-Album gehabt und auf diese Weise versucht, das Album zu strecken. Hätte man CD2 als Bonus-Disc deklariert, würde das zwar nicht viel ändern, aber doch deutlich anders wirken.

Letztendlich tut es fast ein wenig weh, dass Fazit zu verfassen. Lucassen macht im Prinzip alles richtig und leistet sich keine groben Schnitzer. „Lost In The New Real“ ist abwechslungsreich, unterhaltsam und das entscheidende bisschen „anders“ – für sich genommen ein gutes Album. Wenn da nicht Überwerke wie „The Human Equation“ oder „Into The Electric Castle“ wären, an denen sich der Holländer messen lassen muss. Und im direkten Vergleich zu diesen Großtaten wirkt sein Solo-Trip doch ein wenig eindimensional, flach und uninspiriert – trotz eines genialen Songtitels wie „Pink Beatles In A Purple Zeppelin“ und des superben Covers.

Wertung: 7.5 / 10

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