Progressive Metal ist nicht gleich Progressive Metal, das wissen die Fans dieses Genres am besten. Verstehen manche darunter eine Art musikalisch nicht ganz so banalen Power Metal, ist es für andere eine härtere Version dessen, was in den 70ern und 80ern als Progressive Rock bekannt war. Dann wiederum gibt es auch das richtig abgefahrene Zeug, das dem Adjektiv „progressiv“, also „fortschrittlich“, tatsächlich gerecht wird, indem neue Grenzen ausgetestet werden. Bei dem man zum Teil auch nach fünf Mal hören noch nicht so ganz rafft, was da genau abgeht. Zur letzten Kategorie gehört „Liquid Anatomy“, das zweite Album der deutschen Progressive-Extreme-Metal-Supergroup ALKALOID. Die Formation mit drei Gitarristen setzt sich aus Musikern zusammen, die in Bands wie Obscura, Dark Fortress, Aborted oder Necrophagist mitwirk(t)en.
„Liquid Anatomy“ lässt sich dabei am ehesten mit einem Quantenphysikvortrag vergleichen: Man braucht fachliche Vorkenntnisse, um überhaupt eine Chance zu haben, irgendetwas zu verstehen. Man muss sich eine Stunde lang sehr konzentrieren, um dem Ganzen folgen zu können (und selbst dann ist nicht garantiert, dass man alles versteht) und obwohl man das alles superspannend und faszinierend findet, ist man doch froh, sich danach vor die Glotze hocken und einfach berieseln lassen zu können. Die große Stärke und wohl gleichzeitig auch größte Schwäche der Platte ist, dass sie musikalisch so anspruchsvoll ist, dass sie sich einen großen Teil einer potentieller Hörerschaft verspielt, aber mit Sicherheit einen treuen Kern aus begeisterten Anhängern gewinnt.
Aber ist das hier das ultimative Prog-Meisterwerk, auf das die Welt gewartet hat? Das sicher nicht. ALKALOID besteht aus fünf absolut großartigen Musikern, deren Spiel nicht nur hinsichtlich technischer, sondern auch kompositorischer Komplexität unglaublich beeindruckend ist. Dennoch muss man nicht jede Entscheidung auf dem Album gutheißen. Im etwas überladenen „In Turmoil’s Swirling Reaches“ beispielsweise entschließt die Band sich dazu, statt einer schlüssigeren Songstruktur lieber jedem Musiker ein eigenes Solo zuzugestehen (ja, allen drei Gitarristen, dem Bassisten und dem Schlagzeuger). „As Decreed By Laws Unwritten“ versucht sich über acht Minuten lang an mäßig gelungenen Gojira-Midtempo-Stampf-Riffs. „Interstellar Boredom“ dagegen nimmt seinen Titel ein wenig zu sehr beim Wort, wenn ALKALOID minutenlang Spannung aufzubauen versuchen, die sich letztlich in einem zu kurzen und etwas enttäuschenden Höhepunkt entlädt.
Wesentlich öfter aber schaffen sie es dann wirklich zu begeistern. Der Opener „Kernel Panic“ tarnt das Album zunächst mit einem Classic-Rock-Riff, bei dem einzig der 7/4-Takt verrät, dass der Schein trügt und die Band kurze Zeit später brachial-anspruchsvollen Extreme Metal um sich schleudert. „Azagthoth“ legt mit einem orientalisch anmutenden Teil los, über den Dark-Fortress-Vokalist Morean ein seltsam passendes, zu großen Teilen aus Oberton-Klickgeräuschen bestehendes Gitarrensolo spielt, bevor der Song dann – zwar ebenfalls total verspult, aber auch wundervoll groovy – richtig loslegt. Das Highlight-Stück „Chaos Theory And Practice“ beginnt dagegen genauso, wie der Titel es vermuten lässt. So komplex das Stück auch ist, ist es ausgerechnet dieser Song, in dem der Band erstmals eingängige Momente gelingen.
Schade ist, dass ALKALOID zu den wenigen Ausnahmemusiker gehören, die sowohl exzellente technischen Fähigkeiten besitzen als auch musikalisch hochkomplexes und innovatives Songwriting beherrschen, sich auf „Liquid Anatomy“ aber sich trotzdem zu oft zu „Schaut mal, was wir alles Können“-Gebaren hinreißen lassen. Deutlich wird das auch im knapp 20-minütigen Schlusstrack „Rise Of The Cephalopods“, in dem ALKALOID noch mal alle Register ihres Könnens ziehen, aber auch zeigen, dass sie ihre Ideen nicht immer in funktionierende Strukturen einbetten können (oder wollen). Trotz allem beweist „Liquid Anatomy“ in vielen Momenten musikalische Brillanz, die man in dieser Form selten erlebt. Fans von absurd komplexer, hochanspruchsvoller Musik dürften hier auf ihre Kosten kommen. Alle anderen können über sowas wohl nur den Kopf schütteln.
Wertung: 7.5 / 10
Ja, in der Tat „scheinbar“, denn tatsächlich entstand diese Rezension nach etwa 5 konzentrierten Durchgängen und ich kann dir versichern, die Wertung hätte sich auch nach 10 nicht geändert. Aber man kann es sich natürlich immer leicht machen und jedem, der nicht den eigenen Geschmack teilt, unterstellen, die Musik nicht verstanden zu haben. Lass dir versichern, ich verfüge über sehr weitreichende Kenntnisse und Ausbildung im Bereich Musik (Theorie und Praxis) und es liegt hier kein Verständnisproblem vor. Die Probleme des Albums habe ich oben aufgeführt. Versuch doch mal nicht gleich beleidigt zu sein, wenn andere deine Begeisterung nicht teilen. Sie haben möglicherweise berechtigte Gründe dafür.
Darüber hinaus ist 7.5/10 eine gute Wertung. Wir (oder zumindest ich) werfen hier halt nicht inflationär nur 9er- und 10er-Bewertungen raus, sonst verlieren diese ihre Aussagekraft.
Scheinbar hat Simon Bodesheim Liquid Anatomy lediglich überflogen, statt die Musik zu hören. Verstanden hat er sie offensichtlich nicht. Ein Review der Kategorie: „Hauptsache, überhaupt etwas geschrieben.“