Fans der Heavy-Metal-Urgesteine ALCATRAZZ dürfen sich freuen – oder mit den Augen rollen – denn ihre Helden gibt es jetzt zweimal: Vor knapp einem Jahr verkündete die einst vom legendären Sänger Graham Bonnet (u.a. MSG, Rainbow) angeführte Truppe, dass sie sich von ihrem Frontmann getrennt habe. Künftig werde man mit dem nicht minder hochkarätigen Doogie White (ebenfalls MSG, Rainbow) weitermachen. Nahezu zeitgleich vermeldete Mr. Bonnet, dass ALCATRAZZ nur mit ihm existieren können, weshalb er weiter unter ebenjenem Banner aufnehmen und auftreten werde. Wie genau das rechtlich funktioniert, wurde nicht näher erklärt, jedenfalls gibt es die Band jetzt zweimal. Ähnlich wie im Krieg zählt auch bei Band-Zwistigkeiten Geschwindigkeit bei der Streuung von Informationen mehr als alles andere und da haben ALCATRAZZ mit Doogie White jetzt klar die Nase vorn: Während Graham Bonnet noch dabei ist, eine neue Band zu formieren, schaffen seine ehemaligen Mitstreiter Fakten und veröffentlichen mit „V“ ein neues Album.
Wie sich an „V“ zeigt, haben ALCATRAZZ nicht nur im Hinblick auf die Geschwindigkeit der Neupositionierung den Vorteil auf ihrer Seite und das liegt in erster Linie an Sänger-Neuzugang Doogie White: Der Schotte tritt hier nicht zum ersten Mal in die Fußstapfen von Graham Bonnet und es muss einmal mehr festgestellt werden, dass er schlicht der angenehmere Sänger ist – das war bei Rainbow so, das war bei MSG so und das ist auch bei ALCATRAZZ nicht anders. Die Formulierung „der bessere Sänger“ wird hier bewusst vermieden, denn sein Vorgänger ist alles andere als unbegabt. Allerdings zeigt nicht zuletzt ein Album wie „Disturbing The Peace“ (1985), dass Mr. Bonnet schon immer einen eher extremen Gesangsstil hatte. Doogie White passt mit seiner weitaus temperierteren Stimmlage und superben Technik in fast jede traditionelle Rock- und Metalband und dürfte so auch die Musik dieser Formation für ein breiteres Publikum zugänglich machen, als es bisher der Fall war.
Ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen ALCATRAZZ mit einem Album wie diesem sicher nicht, denn „V“ enthält vom ersten Moment an alles, was Fans der Band sich wünschen könnten: Nummern wie der Opener „Guardian Angel“ oder „Target“ entführen mit ihren orientalisch bzw. neo-klassisch angehauchten Riffs sofort in die Hochphase dieser Band. Wie bei so ziemlich jeder Gruppe, in der Graham Bonnet und Joe Lynn Turner aktiv sind oder waren, sind auch hier Rainbow ab und an als Einfluss auszumachen, denen im epischen „Return To Nevermore“ Tribut gezollt wird. Dazu soliert Gitarrist Joe Stump wie der junge Yngwie Malmsteen (spielte 1983 auf dem Debüt „No Parole From Rock ’n‘ Roll“) und schon ist klar, dass ALCATRAZZ ihr Handwerk nicht nur nicht verlernt haben, sondern auch 2021 noch frisch und unverbraucht klingen.
Tatsächlich rufen ALCATRAZZ angefangen mit den genannten Songs über rockige Nummern wie „Sword Of Deliverance“ oder „House Of Lies“, dem atmosphärischen „Turn Of The Wheel“ bis hin zur abschließenden Ballade „Dark Day For My Soul“ Erinnerungen an Alben wie „Disturbing The Peace“ wach. Das liegt in erster Linie daran, dass man sich all diese Songs auch mit Graham Bonnet am Gesang vorstellen könnte, denn sein Nachfolger bedient sich ganz ähnlicher Melodieführung. Das soll Doogie Whites Leistung in keiner Weise schmälern, zeigt es doch viel mehr, wie authentisch die Songs auch mit ihm am Gesang ausfallen. Dazwischen gibt es kleinere Überraschungen wie das gradlinige Power-Metal-Stück „Nightwatch“, die an Thin Lizzys „Emerald“ angelehnte Hymne „Blackheart“ oder das ungewohnt harte, moderne „Alice’s Eyes“ – letzteres ist sicher nicht der stärkste Song der Platte, zwischen so vielen überragenden Stücken ist ein Füller aber durchaus verschmerzbar.
Entgegen aller – etwaigen – Befürchtungen sind ALCATRAZZ ganz offensichtlich auch ohne ihren Ur-Frontmann lebensfähig: Mit „V“ liefert die Truppe ein Album ab, das jedes stilbildende Merkmal ihrer Musik in Vollendung enthält und doch zu keiner Zeit nach altbackener Selbstkopie klingt. Sänger Doogie White tut dabei genau das, was man von ihm erwartet und singt ganz im Stile seines Vorgängers – nur eben ein bisschen sauberer. Zusammen mit dem hervorragenden Songwriting auf dieser Platter ergibt das zeitlos guten Melodic Metal für die Oberliga und vermutlich das beste Album, das ALCATRAZZ ohne Graham Bonnet hätten machen können. Es wird spannend, zu hören, was der abgängige Original-Sänger für eine Platte veröffentlicht, denn seine ehemaligen Mitstreiter haben mit „V“ verdammt stark vorgelegt.
Wertung: 8.5 / 10