Review Agalloch – The Mantle

Ein bemerkenswertes Charakteristikum, das Metal von radiotauglicher Pop-Musik unterscheidet, ist seine Langlebigkeit. Die wirklich herausragenden Alben dieser Stilrichtung sorgen mitunter sogar Dekaden nach ihrer Erstveröffentlichung immer noch für Begeisterung und das nicht bloß unter den Fans der ersten Stunde. Ein erstklassiges Beispiel für diesen markanten Wesenszug ist „The Mantle“, das zweite Album der inzwischen leider aufgelösten AGALLOCH. Seit dem unschönen Auseinandergehen von Bandkopf John Haughm und seinen alles andere als austauschbaren Kollegen ist bereits einiges an Zeit verstrichen und doch hat ihr frühes Meisterwerk nichts von seinem Status als Meilenstein eingebüßt. Selbst heute noch jagen zahlreiche Newcomer-Gruppen dem Ideal der formvollendeten Stilmischung von Black Metal, Doom Metal, Post-Rock und Neofolk hinterher, das AGALLOCH mit „The Mantle“ entscheidend geprägt haben.

Um die Vorreiterrolle von AGALLOCH und „The Mantle“ im Speziellen zu ergründen, lohnt sich ein Blick zurück: Bereits mit ihrem ersten Album „Pale Folklore“ hatten sich die Amerikaner als vorausschauende Musiker mit einer einzigartigen Vision zu erkennen gegeben – mochte das Debüt auch noch ein wenig zu überladen und homogen gewesen sein. Drei Jahre danach folgte schließlich „The Mantle“ und die Einflüsse von Godspeed You! Black Emperor und Death In June, die bereits in den Songs der Vorgängerplatte geschlummert hatten, bekamen nun mehr Raum zur Entfaltung. In die warmen, bodenständigen Black-/Doom-Stücke wurden vermehrt ausgedehnte, sich in Trübsal suhlende Post-Rock-Kompositionen („Odal“) und naturverbundene Akustikeinschübe integriert – lange bevor diese Stilmittel zum Klischee werden sollten.

Was AGALLOCH mit dieser neuen Herangehensweise hervorbrachten, war so vielseitig wie konsistent. Von getragenen, bedrückenden Doom-Nummern („In The Shadow Of Our Pale Companion“) über treibende Tracks wie „I Am The Wooden Doors“, auf dem das erdige Riffing, die tänzelnde Akustikgitarre und die kräftige Double-Bass eine unzertrennliche Einheit bilden, bis hin zu kontemplativen Instrumentalstücken wie „The Lodge“ – sie alle eint ein tiefes Gefühl der Bedeutsamkeit von geradezu apokalyptischem Ausmaß. „The Mantle“ klingt wie ein Abgesang auf die moderne Welt, weshalb es gut ins Bild passt, dass AGALLOCH die Platte mit „A Desolation Song“ ausklingen lassen, einem trostlosen, mit Mandoline und Akkordeon untermalten Liebeslied, das ein dezentes Lagerfeuerflair versprüht.

So verschieden die einzelnen Songs auch sein mögen, sie alle speisen sich aus demselben melancholischen Grundton. Kein Aspekt wird hier bevorzugt in den Vordergrund gerückt, weder Haughms Gesang, der sowohl kernige Screams als auch nachdenkliche Clean-Vocals umfasst, noch die Vielzahl an Instrumenten, von denen AGALLOCH im Lauf knapp 70-minütigen Spielzeit Gebrauch machen. Den Schlussstein dieses grau-schattierten Mosaiks der Tristesse bildet die vielschichtige, perfekt ausgewogene Produktion, die jedem einzelnen Ton sein größtmögliches Ausdrucksvermögen entlockt.

Welcher Teil der durch die Bank weg fantastischen Diskographie der Band als das Magnum Opus anzusehen ist, bleibt letzten Endes freilich eine Frage des persönlichen Geschmacks. Doch völlig gleich, ob man nun den ungeschliffenen, knorrigen Charakter des Debüts „Pale Folklore“, die scharfen Kontraste auf „Marrow Of The Spirit“ oder gar das kryptische „The Serpent & The Sphere“ präferiert, es lässt sich nicht bestreiten, dass AGALLOCH mit „The Mantle“ ein atemberaubendes, unnachahmliches Kunstwerk geschaffen haben, dem der Zahn der Zeit nichts anhaben kann. Unzähligen passionierten Bands haben die Amerikaner mit ihrer richtungsweisenden zweiten Platte den Weg geebnet, doch wie viele auch versucht haben, AGALLOCH zu kopieren, „The Mantle“ bleibt bis heute ein unerreichtes Manifest der Melancholie, das jeden noch so sonnigen Tag den kalten, nebligen Händen des Herbstes zu übergeben vermag.

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Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Stephan Rajchl

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