1476 - In Exile Cover

Review 1476 – In Exile

Nicht erst seit, aber doch vermehrt infolge der Lockdowns und Quarantänen während der Coronapandemie ist das Gefühl, isoliert, abgeschottet oder gefangen zu sein, die Inspirationsquelle zahlloser Kunstwerke. Auch die komplementäre Empfindung des Ausgestoßenseins und des Außenseitertums ist vielen Kunstschaffenden vertraut – zum Beispiel Robb Kavjian, dem kreativen Kopf des Art-Rock-Duos 1476. Schon aus dem Titel ihres dritten offiziellen Albums, auf dem jeder Song eine eigene Geschichte rund um das Mysterium des Jenseits erzählt, ist Kavjians Fremdsein in der Welt herauszulesen: „In Exile“.

Dass der Multi-Instrumentalist sich auf seinem Lebensweg oft unverstanden gefühlt haben muss, ist der Musik, die er gemeinsam mit Drummer Neil DeRosa in 1476 kreiert, in gewisser Weise inhärent. Bereits auf „Wildwood“ (2012) haben die beiden eine derart ungewöhnliche Mischung aus Post-Punk und Neofolk sowie einem Hauch Ambient und Post-Black-Metal geschaffen, dass Vergleiche mit anderen Bands unzulänglich erschienen. Die wilde Experimentierfreude und Bedeutungsschwere dieses Ausnahmealbums verquicken die Neuengländer auf „In Exile“ mit der emotionalen Wucht der Nachfolgeplatte „Our Season Draws Near“ (2017).

Tatsächlich ist das gut einstündige Album sogar noch ein ganzes Stück roher als die sechs Jahre zuvor erschienene Veröffentlichung. Schon die Produktion ist auffallend spröde und nicht so angenehm abgerundet wie bei „Our Season Draws Near“, allerdings auch griffiger als bei „Wildwood“. Kavjian intensiviert seinen gefühlsgeladenen, gerade noch nicht zu pathetischen Gesang öfter denn je mit ungeschlachten Screams und rastlose Punk-Passagen („May Mountains Never Fall“) wetteifern mit ohrenbetäubend schrillen Gitarrenleads („Carnelian Fire: The Gallows“). Sogar überwältigendes Tremolo-Riffing und Blasting verknüpfen 1476 an manchen Stellen flüssig mit ihrem sonst eher Folk-Rock-lastigen Stil („Lost In Exile“).

Und doch dauert es nie allzu lange, bis Kavjian zur Akustikgitarre, zur Mandoline oder zum Keyboard greift und den Stücken mit luftigen Klängen und sanfter Stimme eine dem Hier und Jetzt entrückte Atmosphäre verleiht („Where Are You?“). Trotz seiner stilistischen Vielseitigkeit und seiner weit auseinanderklaffenden Höhen und Tiefen erscheint „In Exile“ keineswegs inkonsistent. Vielmehr gelingt es 1476, Sturm und Drang freien Lauf zu lassen, aber immer wieder auch innezuhalten, zu sinnieren, zu schwelgen und zu schmachten, ohne sich damit gefühlt selbst zu widersprechen.

So, wie es mitunter einiges an Einfühlungsvermögen erfordert, einem außenstehenden Menschen Verständnis entgegenzubringen, ist „In Exile“ ein Album, das Zuhörenden viel Aufgeschlossenheit abverlangt. Es klingt widerspenstig und eigenartig und an manchen Stellen irritiert es – etwa mit einem ausbleibenden Höhepunkt („Beyond The Meadows, Beyond The Moors“) oder einem allzu abrupten Ausklang („When Comes The Dawn?“). Freigeister, die das Gefühl der Entfremdung kennen, werden in 1476 jedoch gewiss einmal mehr Seelenverwandte erkennen und von ihrem Wirken weiterhin auf intime Weise fasziniert sein.

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Wertung: 8 / 10

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4 Kommentare zu “1476 – In Exile

  1. Danke. Darauf habe ich gewartet, entspricht dem, was ich beim Hören denke und fühle. Gibt mir aber noch eine Ecke mehr und macht mir so viel Freude, dass ich nach dem Dauerbrenner von Vorgänger hier auch für Artbook und Bonus-CD voll Punkte gebe. Wird mich jetzt ständig begleiten und wohl nie langweilig werden!

    1. Schön, dass dich das Album auch so sehr ergreift und mein Text auch deine Eindrücke widerspiegelt! Ich war anfangs sogar ein bisschen irritiert davon, wie borstig es klingt, und die Songs haben bei mir erst nach und nach gezündet, aber inzwischen bin ich davon auch einmal mehr begeistert. „Wildwood“ wird vorerst wahrscheinlich mein Liebling bleiben, aber es ist ein knappes Rennen. :)

      1. Die Wildwood überrascht mich auch jedes Mal wieder aufs Neue, wobei mir da noch ein bisschen der „Punk“ fehlt. Von der neuen finde ich aber gerade den herben Sound ziemlich stark. Da war der Vorgänger richtig glatt dagegen. Ich habe eh beim Hören den Eindruck, dass sich 1476 diesmal wesentlich mehr von den guten Seiten Solstafirs beeinflusst zeigen und da auch den kratzigeren, wuchtigeren Sound der älteren Scheiben adaptiert haben. Gerade was den Schlagzeugsound betrifft.
        Ich komme aus dem Schwärmen jedenfalls nicht mehr raus :D

        1. Ja, die „Wildwood“ ist ein sonderbares Ding. Robb meinte in unserem Interview ja auch, dass sie da eigentlich zu viel auf einmal reinpacken wollten. Aber mich stört das gar nicht, ich finde es gerade so fantastisch, weil man es irgendwie nie völlig begreift und die Tracks trotzdem richtig catchy sind. Ich persönlich bin eher im Post-Punk und Rock unterwegs, deswegen fehlt mir der klassisch rohe Punk da gar nicht so sehr. Aber er taugt mir umso mehr, wenn er dann mal in Fahrt kommt, zB in „Horse Dysphoria“.
          Und es stimmt schon, „Our Season Draws Near“ ist rückblickend eigentlich sogar fast ein bisschen zu glatt. Aber das Songwriting packt mich halt doch jedes Mal. :)

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