Nicht immer ist größer auch besser. Nach Headlinern wie Schandmaul, Saltatio Mortis oder Subway to Sally macht das TANZT! 2019 einen Schritt zurück: Immer noch im Backstage Werk angesiedelt, besinnen sich die Veranstalter etwas auf den Wurzeln des einst als liebevoll umgesetzten Underground-Konzerts gestarteten Szene-Festivals. Als besonderer Abschluss spielen die Italiener FOLKSTONE, die viele Jahre zu Gast in München und Kufstein gewesen sind, an diesem Abend ihre letzte Show in Deutschland. Davor tummelt sich wieder allerlei Verspieltes, Bekanntes und auch Neues von Altbekannten im Line-Up.
In den letzten Jahren diente das TANZT! oft als Sprungbrett für kleinere Bands, so auch in diesem Jahr: In der noch etwas spärlich gefüllten Halle beginnen VERA LUX das Festival mit härteren Klängen. Die Musiker haben sich zu einer Crowdfunding-Kampagne entschieden, um im Frühjahr 2020 ihr erstes Album zu veröffentlichen. Das Ziel von 5500 Euro übertraf der Siebener und alle anwesenden Supporter bekommen beim TANZT! einen ersten Eindruck davon, dass ihre Spenden gut angelegtes Geld sind. Die junge Inara überzeugt als energiegeladene Frontfrau, die auch stimmlich einiges zu bieten hat, besonders in den hohen Lagen. Lyrisch ist hingegen bei Texten wie „Grenzenlos ist meine Gier, saugst mich aus wie ein Vampir“ noch Luft nach oben. Instrumental treffen in Songs wie „König aller Lügen“ oder „Bis aufs Blut“ erwartungsgemäß harte Riffs auf die Melodien verschiedenster Folkinstrumente wie Geige, Bouzuki, Dudelsack und Drehleier. Im Klangbild des Abends kommt die Geige zu kurz und auch einige Sackpfeifen-Töne tanzen aus der Reihe, doch unter dem Strich geht der Auftritt besonders durch die spürbare Hingabe jedes einzelnen Bandmitglieds mehr als in Ordnung – lediglich „Eiszeit“ als Abschluss fällt, besonders bei den mehrstimmigen Parts, ab.
Das Schicksal der zu leisen Geige teilen anschließend auch DELVA. Mit Schlagzeuger Andy Horst (Letzte Instanz) präsentiert das Trio seinen akustischen Folk-Rock nun druckvoller als beim letzten Auftritt vor drei Jahren, ohne dadurch einen Stilwechsel zu vollziehen. Neben perkussiver Unterstützung haben Johanna, Judith und Michael mit „Verblassen“, „Der Frühling soll warten“ und „Nebel“ einige Vorboten vom kommenden Album „Spuren“ dabei, das Mitte 2020 erscheinen soll. Die neuen Stücke fügen sich nahtlos bei Liveerprobtem wie „Schattentanz“ ein, erweitern den Klangkosmos von DELVA allerdings um einige Nuancen. Wie genau, das werden im Detail wohl erst die finalen Studioversionen zeigen, da beim TANZT! das Schlagzeug und der Gesang im Mix zu sehr im Vordergrund stehen. Glücklicherweise weiß sowohl Johanna ihre Stimme als auch Andy seine Sticks entsprechend einzusetzen, so dass beide ihre unplanmäßig tragenden Rollen mit Bravour erfüllen. Dunkelromantische Herbstabende bieten für die Musik von DELVA das wohl passendeste Ambiente, wenngleich die vom Trio zum Quartett gewachsene Kombo nun auch hinreichend ihre Festivaltauglichkeit unter Beweis gestellt hat – so auch beim TANZT! 2019.
Ebenfalls mit viel brandneuem Material haben VOGELFREY ihre Reise von Hamburg nach München angetreten. „Nachtwache“ heißt das gute Stück, welches mit humorvollen, bissigen und manchmal melancholischen Momenten auch diesseits des Weißwurstäquators für Furore sorgen soll. Das gelingt besonders durch mitreißende Partynummern wie „Magst du Mittelalter?“ und „Mittelalterrockstar“ zum Auftakt mehr als amtlich, so dass sich unter anderem bei „Schuld ist nur der Met“ früh eine erste Polonnaise ihren Weg durch die Menge bahnt. Der Sound dringt zudem endlich richtig ausgewogen über die Boxen und die oft sonnenbebrillten Nordlichter liefern als Kollektiv ordentlich ab, obwohl Stamm-Cellistin Johanna passen muss und spontan durch Sandy von Storm Seeker ersetzt wird. Diese fügt sich trotz kaum vorhandener Vorbereitung hervorragend ein. Mit Integrativem wie „Tanz für mich“ und dem stark nach vorne gehenden metallischen „Lindwurm-Massaker“ beweisen Jannik und Co. wiederum ein hervorragendes Händchen bei der Songauswahl und Gestaltung ihrer Setlist, so dass auch eher mäßige Ideen wie „Crystal Met“ klargehen. Im Vorfeld der Eisheiligen Nächte bestehen VOGELFREY die ersten Feuertaufen der „Nachtwache“ und stellen in dieser Form eine prima Ergänzung zu Subway to Sally, Fiddler’s Green und Knasterbart dar.
Inzwischen wieder präsenter auf den Märkten und in den Clubs der Bundesrepublik sind CULTUS FEROX. Beim TANZT! präsentiert die trinkfeste Meute dieses Mal eine Mischung aus ihren Marktwurzeln und ihrem Mittelalter-Rock, der allerdings nie in den Untiefen von „Nette Jungs“ versinkt. Dazu hat die „wilde Lebensart“ einige Anpassungen vorgenommen: Strahli der Animator mutiert in München zu Strahli dem Gitarristen und am Schlagzeug agiert Klauz Klasson Kaiserschmarn (ja, kein Witz!) als Taktgeber. Neben eines fragwürdigen Pseudonyms offenbart der Gute über den gesamten Auftritt starke Timing-Schwankungen in seiner Schießbude. In der fröhlichen Rochade der Bandmitglieder stellen CULTUS FEROX mit „Die Kleene“ darüber hinaus ihre neue Bassistin vor und werden von zwei Tänzerinnen unterstützt, die sich leider vereinzelt am Gesang versuchen. Was bei den Miezen von Feuerschwanz inzwischen ein essentieller Teil der Show ist, hat bei den Spielmännern etwas von spontan hinzugefügtem Eye Candy. Allgemein wirkt die halb mittelalterlich halb rockig gestaltete Show wenig strukturiert, sondern eher improvisiert. Das passt zur vertonten und demonstrierten „Frei und unbeugsam“-Attitüde der Kapelle, wenngleich Stücke wie „Ahoii“ und „Goldene Zeiten“ zwar mitunter eingängig, aber wahrlich keine kompositorischen Meisterwerke darstellen. Schlussendlich werden vor allem all jene abgeholt, die es gerne etwas einfacher mit einer Prise Seefahrer-Romantik mögen.
YE BANISHED PRIVATEERS haben bereits 2018 auf ihrem TANZT!-Debüt so gut funktioniert, dass sie im Jahr darauf direkt noch einmal kommen dürfen. Die Schweden, die theoretisch über 20 Bandmitglieder zählen, sind diesmal auf der Backstage-Bühne „nur“ zu neunt – was aber bei der Menge an Musikern nicht ins Gewicht fällt. Es herrscht wieder herrliches Piraten-Chaos, mit Shantys und Folknummern, liebevoll gestalteten Kostümen und kleinen Show-Einlagen wie beispielsweise Flaschen, die zerberstend gestandene Piraten wie Blackpowder Pete ins Koma schicken. Dass sie sich eine Menge Fans im Vorjahr erspielt haben zeigt sich schnell bei Songs wie „Ship is Sinking“ oder „Annabel“, bei denen das Publikum sehr textsicher und lauthals mitsingt oder gesammelt in die Knie geht. Letzteres spielen YE BANISHED PRIVATEERS sehr reduziert und gewinnen damit auf ganzer Linie. Auf die weitere Ballade „Fisher Lass“, die im Vorjahr von Eva the Navigator beeindruckend gesungen wurde, wird dafür zugunsten von weiteren Feierhits wie „Tortuga“ oder „We Are Ye Banished Privateers“ verzichtet, bei denen die PRIVATEERS die Piratenhauptstadt oder eben ganz simpel sich selbst besingen. Mit „Sjömansvisa från Nattavara“ spielen die YE BANISHED PRIVATEERS auch ein besonders mitreißendes Stück auf Schwedisch – und sorgt so für noch mehr willkommene Sprachenvielfalt an diesem Tag. Einziger Wermutstropfen: Vom kommenden Album „Hostis Humani Generis“ gibt es leider noch nichts zu hören. Bis auf ein paar kleine Soundschwierigkeiten, die bei einer solchen Fülle an Instrumenten und Gesangsstimmen selten ausbleiben, kann die Band also auch beim TANZT! 2019 wieder auf ein sehr erfolgreiches Konzert zurückblicken und hat sicherlich wieder einen Haufen neue Fans dazugewonnen.
VROUDENSPIL sind bekanntlich die feste Konstante auf dem TANZT!, und so gibt es auch dieses Jahr wieder technisch versierten Folk-Rock zu hören. Diesmal haben die Münchener allerdings mit „Panoptikum“ auch endlich wieder ein neues Album im Gepäck – womit Sänger Don Santo nun auch zu Songs performen kann, bei deren Entstehung er auch selbst beteiligt war. Mit dem Album lösen VROUDENSPIL sich konsequent weiter vom starren Korsett der Piraten-Thematik, und erschließen sich dadurch völlig neue musikalische Wege. Dass sie auch große Lust haben, diese Songs endlich zu spielen, zeigt sich an der Setlist: Gleich 10 der 13 Songs auf „Panoptikum“ werden dem Münchener Publikum präsentiert, und entsprechend große Spielfreude bringen VROUDENSPIL auf die Bühne. Mit Petz am Saxophon haben sie außerdem ein besonderes Alleinstehungsmerkmal, das ähnlich wie bei Coppelius beweist, dass Holzblasinstrumente auch im Folk-Bereich ein Zuhause haben können. Schon nach kurzer Zeit hüpft das Backstage Werk und lässt die Haare kreisen. Die „alten“ Hits wie „Püppchen“ oder „Plankentango“ kommen dabei ebenso gut weg wie die neuen Stücke. Da lädt der „Tanzbär“ zum Tango, der „Wanderer in Schwarz“ zur Reise in die Finsternis und die „Kleine Fabel“ zum ausgelassenen Springen und Tanzen. Wem noch nicht warm genug ist, kann sich gegen Ende noch an der „Rebellion“ beteiligen – für die Don Santo beherzt in die Menge springt, die er zusammen mit Ex-Sänger Ratz im Publikum zu einer Wall of Death animiert. Nach diesem „Rausch der Sinne“ verabschieden sich die Münchener von ihrem verschwitzten Haus-und-Hof-Publikum und qualifizieren sich ein weiteres Mal für das TANZT! im Folgejahr.
Ein letztes Mal FOLKSTONE hieß es zum Abschluss des TANZT! 2019. Nach einem furiosen Abriss 2012 folgten bis zu diesem Jahr drei weitere Shows in München, die diese erste Messlatte nicht mehr erfüllen konnten. Allgemein gelang den Folk-Metallern nie so wirklich der Sprung über ihre Landesgrenzen und den süddeutschen Raum hinaus. Warum durch das plötzliche Ende dennoch eine Lücke entstehen wird, beweisen die Musiker bei ihrem Abschiedskonzert: Zwar ist die Anzahl der Dudelsäcke von vier auf drei gesunken, doch mit Drehleier und Schalmeien sowie einzelnen Harfenpassagen steht das instrumentale Fundament immer noch felsenfest. Dazu sind alle Bandmitglieder spürbar mit dem Herzen bei der Sache und geben alles, so dass bereits beim Opener „Diari Di Un Ultimo“ klar wird, dass diese Show den Geist von 2012 in sich trägt. Die Erfolgsformel für furiose FOLKSTONE-Shows erscheint am Ende denkbar einfach: Denn zu den Verrückten auf der Bühne gesellen sich in den ersten Reihen genau wie vor sieben Jahren viele Hardcore-Fans, die leidenschaftlich in fast jeden Song miteinstimmen und dadurch einiges zur Atmosphäre beitragen. Die Musiker und ihre Fans teilen stacheln sich gegenseitig an, teilen temporär sogar die Bühne: Kein Wunder also, dass es bereits bei den ersten Takten von „Terra Santa“ richtig laut im Backstage wird und der Refrain der Bandhymne „Folkstone“ aus enthusiastischen Kehlen der Tivosi eben noch einmal anders klingt. Neben jenen Klassikern verdeutlicht der Auftritt insgesamt, dass FOLKSTONE ihren eigenen Sound gefunden und davon ausgehend immer weiter variiert haben. Ob „Astri“, „Nebbie“ oder „In Caduta Libera“ – die Erfolgsformel bleibt stets ähnlich, nur werden immer unterschiedliche Elemente betont – ob instrumental oder bei den Mitgliedern. Als weibliches Gesicht darf Roby noch einmal zeigen, dass sie neben ihren Sackpfeifen auch am Mikro eine mehr als gute Figur abgibt. War es 2012 noch ein furioses „In Taberna“, das das große Finale einläutete, so beschließen FOLKSTONE ihr allerletzte Show mit dem wahnsinnig atmosphärischen „Omnia Faert Aetas“, „Anime Dannata“ und „Con Passo Pesanta“. Zu Deutsch bedeutet dies „mit Vollgas“ und genau so werden viele die Italiener in bester Erinnerung behalten.
Weniger international und intimer als in den Vorjahren überzeugt das TANZT! als Mittelalter- / Folk-Rock bzw. Folk-Metal-Festival auch in einem Rahmen, der mehr an die Anfänge in Österreich und Rosenheim erinnert als die letzten Jahre in München. Dass FOLKSTONE ihr Abschiedskonzert im Backstage spielen, sagt dazu viel über den Stellenwert des Festivals aus, ebenso wie die Tatsache, dass viele kleinere bis mittelgroße Bands regelmäßig den Weg in die bayerische Landeshauptstadt antreten, um dort wie DELVA ein neues Bandkonzept vorzustellen oder wie YE BANISHED PRIVATEERS an einen hervorragenden ersten Auftritt im Vorjahr anknüpfen. Dieser Geist prägt das Festival und diesen Geist wird es hoffentlich fernab der großen Szene-Events immer geben.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von:
Sabine Thiele / http://www.schwarzesbayern.info