Das Roadburn Festival im beschaulichen, holländischen Städtchen Tilburg zieht jedes Jahr rund 4000 Metalheads aus aller Herren Länder an, um sich die Crème de la Crème, aber auch den internationalen Underground von Avantgarde bis Black Metal auf diversen, hervorragend ausgestatteten Bühnen anzuschauen. Hier der zweite und letzte Teil unseres Festivalberichts (Teil 1 gibt es hier).
Samstag, 13.04.19 – Tag 3
Mit Aaron Turner ist das inzwischen so eine Sache: Das ehemalige ISIS-Mastermind scheint in den letzten Jahren zusehends die melodischen Aspekte seines bisherigen Schaffens aus seiner Musik verbannt zu haben. ISIS-Nachfolgeprojekte/-bands sind kein Easy Listening, zu noisig und in ihren Strukturen wenig nachvollziehbar sind die aktuelleren Kompostionen von Turner und manch einer stellt (zu Recht?) die Frage, ob das Kunst ist, oder doch weg kann. Nach dem ausgesprochen Ringmodulator-lastigen Set von SUMAC auf der Hauptbühne des 013 bin ich diesbezüglich auch nicht schlauer: Man hat den Eindruck, Turner pervertiert sein bisheriges Schaffen in Sachen Melodie und Zugänglichkeit regelrecht, in dem er einzelne fast melodische Tonfolgen oder Akkorde anspielt und diese dann sofort in einer Noise-Kakophonie zerstört – das Ganze unterbrochen von den ultrafetten und an frühe Isis erinnernde Riffwalzen des US-amerikanisch/kanadischen Trios. Trotzdem haben klassische Headbanger spätestens im letzten Drittel des Gigs, als Avantgarde-Gitarrist CASPAR BRÖTZMANN (der Sohn von Peter Brötzmann, den wir gestern im Green Room hören durften) die Bühne betritt und mit SUMAC ein wenig improvisiert, keine Chance, ihr Haupthaar im korrekten rhythmischen Kontext zu schütteln. Intensiv: Ja. Musikalisch interessant: ebenfalls ja. Musikalisch wertvoll: Ich bin unschlüssig. War auf jeden Fall mal schön, sich kurz den Kopf durchpusten zu lassen.
Wesentlich melodischer geht es allerdings beim anschließenden CAVE-IN-Auftritt auf der Hauptbühne zu. Kurzer Rückblick: Der Bassist der Band Caleb Scofield (auch bei OLD MAN GLOOM aktiv) kam kurz vor dem letztjährigen Roadburn Festival bei einem Autounfall ums Leben. Gitarrist und Sänger Stephen Brodsky und Gitarrist Adam McGrath spielten daraufhin ein akustisches und sehr emotionales Tribute-Set im Het Patronaat, welches auch aufgenommen und veröffentlicht wurde. Ich war immer ein großer OLD-MAN-GLOOM-Fan, mit CAVE IN hatte ich mich aber aus unerfindlichen Gründen nie beschäftigt. Und werde abermals ausgesprochen positiv überrascht, denn die vier US-Amerikaner (Scofield wird von CONVERGEs Nate Newton ersetzt) legen einen tollen, authentischen Auftritt mit viel Melodie, aber auch hardcore-lastigen Passagen hin. Hat schon auch was von Alternative Rock, gerade den Gesang betreffend, ist aber härter und dreckiger. Schönes Ding.
Es wird gemunkelt, dass die Ankündigung der nachfolgenden Band bereits für ein ausverkauftes Roadburn Festival gesorgt hat (zumal die alten Herren dafür das Coachella-Festival haben sausen lassen, aus mehr als guten Gründen): SLEEP spielen sowohl am Samstag als auch am Sonntag ein jeweils zweistündiges Set, bestehend aus dem kompletten „Holy Mountain“- (Samstag) und dem kompletten „The Sciences“-Album (Sonntag) – plus einiger Überraschungen, denn mit den Alben ist die abendliche Spielzeit keinesfalls ausgefüllt. So ist der Jupiter Zaal zum Bersten gefüllt und ein entsprechender Applaus bricht aus, als die etwas älteren Herren die Bühne betreten und die ersten Klänge ihres 1993er Meilensteins erklingen. Und tatsächlich sind SLEEP ziemlich gut drauf und rocken, was das Zeug hält – man hat sogar das Gefühl, dass sie für den Auftritt geprobt haben (was in der Vergangenheit gefühlt nicht immer der Fall war). Aus allen Ecken strömt Marihuanageruch und ich vermute mal, dass der mit dem Festival kooperierende Grass-Hopper-Coffeeshop keinen schlechten Umsatz gemacht haben dürfte – und im besten Fall die Qualität von SLEEPs Auftritten positiv beeinflusst hat. Im Anschluß an „Nain’s Baptism“ spielen sie sogar noch die gekürzte Fassung von „Dopesmoker“ und so dürfte jeder SLEEP-Fan schon nach nur dem einen Gig glücklich, zufrieden und möglicherweise ziemlich stoned den Saal verlassen und ins Bett bzw. den Schlafsack fallen.
Wir entscheiden uns allerdings gegen das Bett und noch für einen Abstecher in die Koepelhal: DOOLHOF, ein weiteres exklusives Roadburn-Projekt ist angekündigt und außer den involvierten Musikern (Aaron Turner, Will Brooks von DÄLEK und der belgische Künstler Dennis Tyfus) sind keine Informationen im Vorfeld an die Öffentlichkeit gelangt. Also nicht den Hauch einer Ahnung, was uns hier erwartet, aber derbe neugierig.
Nach einigen Minuten ist klar, worauf die Nummer hinausläuft: ansatzweise atmosphärischer und kreativ mit einer riesigen Effektphalanx umgesetzter Noise – in Ermangelung eines Schlagzeugs weitestgehend ohne für Otto-Normal-Hörer nachvollziehbare rhythmische Struktur. Und da ist auch schon wieder dieser Ringmodulator-Effekt von Aaron Turner. Also ein wenig wie SUMAC ohne fette Riffs, mit einzeln eingestreuten Vocal-Passagen von MC Dälek. Dennis Tyfus nutzt verschiedene Vocaltechniken, um mit seinen Loopern gelayerte Klangwolken aufzubauen, die oftmals die Basis für die „Songs“ darstellen. Musikalisch und tontechnisch wieder interessant, ohne jede Frage, aber doch weitestgehend unhörbar und an die 2018er Kollabo von SUMAC und dem Japaner Keiji Haino erinnernd. Ein weiteres Zeugnis der Turner’schen Evolution in Richtung Avantgarde- und Experimentalmusik? Kann man mal so stehen lassen. Ein schräger Abschluss für den dritten Tag auf dem Roadburn-Festival.
Sonntag, 14.04.19 – Tag 4
Wir drehen eine letzte Runde über das „Full Bleed“ und den Merchandise-Bereich. Jacob Bannon von CONVERGE ist da, erstellt eigenhändig Kunstdrucke und quatscht mit Festivalgästen. Ziemlich familiäre Atmosphäre, immer wieder sieht man das eine oder andere bekannte Gesicht in der Menschenmenge, so auch THE OCEAN COLLECTIVEs Robin Staps, den ich in der Schlange des Burgertrucks vor der Koepelhal erkennen kann. In selbiger sind heute keine Konzerte mehr, lediglich in der kleinen Hall Of Fame wird noch die eine oder andere Band spielen.
Unser erster musikalischer Programmpunkt des Tages sind die Ende des letzten Jahres ziemlich gehypten Avantgarde-Noise-Rocker DAUGHTERS im Jupiter Zaal des 013. Ihr aktuelles Album „You Won’t Get What You Want“ fand ich zwar ganz cool, restlos überzeugt hatte mich die musikalische Vision der Amerikaner allerdings noch nicht. Dementsprechend war ich auf Live-Umsetzung ziemlich gespannt. Und diese war kurz und knapp: Der Wahnsinn! Sänger Alexis S. F. Marshall wütet ohne Pause wie ein manischer Derwisch auf der Bühne (und geißelt gegen Ende des Gigs seinen nackten Oberkörper mit einem Ledergürtel… whatever…), die restlichen Musiker bieten über eine dreiviertel Stunde eine unglaublich fette und energetische Show. Songs wie „Satan In The Wait“ oder „Less Sex“ zeigen, dass die DAUGHTERS auf jeden Fall eine Band sind, die ihre Magie auf der Bühne noch besser entfalten kann als auf Platte.
Anschließend noch ein letztes Mal der „Artist In Residence“: THOU, ebenfalls auf der Hauptbühne, ebenfalls rund 45 Minuten, in denen die Band Songs aus ihrem „Magus“-Album präsentiert und ein weiteres Mal durch ihre Spielfreude und sehr gute musikalische und technische Umsetzung überzeugt. Faszinierend auch, wie unangestrengt und entspannt Sänger Bryan Funck trotz hasserfüllter Vocalsperformance während dem Auftritt wirkt – auch nach vier Tagen Festival keine Spur von Verschleißerscheinungen. Leider haben wir das „Misfits“-Coverset von THOU im Ladybird Skatepark verpasst. Und offen gesagt habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wann das war – weder Programmheft noch TimesSquare-App geben Antwort auf dieses Mysterium. Läuft aber wohl irgendwie auf Samstagabend raus.
Wir verlassen den Jupiter Zaal gar nicht erst, da sich als nächstes die Post-Metal-Legenden von OLD MAN GLOOM die Ehre geben wollen. Vielleicht einer der letzen Auftritte der Supergroup um Aaron Turner (SUMAC, ISIS) überhaupt, denn der verstorbene Caleb Scofield war auch hier als Bassist an Bord und wird heute von CAVE INs Stephen Brodsky ersetzt. Nate Newton an der Gitarre, Santos Montana am Schlagzeug und Turner geben alles und tatsächlich handelt es sich trotz der unglaublichen Härte um die zugänglichste Performance des ehemaligen ISIS-Masterminds im Rahmen des diesjährigen Roadburn Festivals. Und unterstreicht durch die fetten und groovigen Riffs seine Pionierstellung in Sachen „Post-Metal“. Eine Reise durch die bisweilen schräge Diskografie der Band, von „Christmas“ über „No“ bis hin zum 2014er-Doppelalbum „The Ape Of God“ – mit einer Träne im Knopfloch. Die zweite Hälfte des Sets besteht ausschließlich aus Coverversionen von ZOZOBRA: Ein weiterer Tribut an Scofield und sein eigenes Post-Metal-Brainchild, welches OLD MAN GLOOM nicht ganz unähnlich ist. Durchaus denkbar, dass auch diese Performance ihren Weg auf Vinyl finden wird. Rechts vor der Bühne steht Emma Ruth Rundle zwischen den Zuschauern und verfolgt gebannt die Show.
Direkt im Anschluss schauen wir nochmal in den Green Room. Hier werden in wenigen Minuten die Briten BOSSK ihr großartiges „Audio Noir“-Album in voller Länge spielen – sicherlich eins der Post-Metal-Highlights der letzten Jahre. Unterstützung wird ihnen durch Album-Producer und Multiinstrumentalist Martin Ruffin zuteil, der sowohl Keyboards als auch dritte Gitarre beisteuert. Ganz reibungslos läuft die Nummer nicht, was aber nur auffällt, wenn man die Platte wirklich gut kennt – da aber einige Songs von „Audio Noir“ noch nie live aufgeführt wurden, sicherlich mehr als verzeihbar und fehlender Routine zuzuschreiben. Unterm Strich trotzdem eins meiner persönlichen Festivalhighlights und irgendwie auch eine Zusammenfassung von allem, was das Roadburn Festival insgesamt auszeichnet: Atmosphäre und Härte, Wärme und Kälte, Liebe und Hass (letzteres ausschließlich auf die eine oder andere musikalisch-schauspielerische Darbietung bezogen, sicher nicht auf die Festivalatmosphäre oder die Teilnehmer).
Wir schauen nochmal kurz zu SLEEP, die inzwischen auf der Hauptbühne ihr letztjähriges „The Sciences“-Album am Stück darbieten. Bis auf die Visuals performancetechnisch durchaus mit dem gestrigen Auftritt vergleichbar: neben einen Astronauten mit Rickenbacker-Bass in einer Mondlandschaft gibt es Bilder von Spiegeleiern mit Toast und Speck… und Gras. Schon ein wenig skurril. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bekommen wir Hunger und schauen mal, was das Festival in seinen letzten Zügen kulinarisch und auch musikalisch noch zu bieten hat – und schaffen es nach einer Portion belgischer Pommes tatsächlich noch ins Het Patronaat zu einem der beiden letzten Auftritte des Festivals: Den New Yorker Avantgarde-Black-Metallern IMPERIAL TRIUMPHANT wird außerdem die Ehre zuteil, den letzten Roadburn-Auftritt im Patronaat überhaupt bestreiten zu dürfen (nochmal Träne im Knopfloch). Und reißen die Hütte in voller Maskierung mit dröhnenden Bläsersetzen erfolgreich ab, was das Publikum in jeder Sekunde dankbar honoriert.
Einen letzten Höhepunkt hat das Festival aber noch in der Hinterhand: Der Shuttlebusfahrer nach Eindhoven ist ein Entertainer vor dem Herrn und unterhält die gesättigte und erschöpfte Meute mit trocken-humoristischen Sicherheitstipps und Ansagen („Don’t leave your wallet in the bus. I will take your money, go to the pub and get really drunk.“) bei Laune. „You are fucking quiet… what’s wrong with you?“ Nichts, alles gut… wir sind alle nur platt, glücklich und zufrieden.
Es ist äußerst bemerkenswert, wieviel Liebe und Sorgfalt Walter Hoeijmakers und sein Team jedes Jahr ins Roadburn Festival stecken. Kaum eine andere mehrtägige Veranstaltung ist so gut organisiert und stressfrei umgesetzt wie das verhältnismäßig kleine, aber feine Festival in Tilburg. Das fängt beim Zustand der Toiletten an und hört beim umfangreichen Rahmenprogramm auf: Cover-Artists, die ihre Werke ausstellen, Workshops, Q&As zu Themen wie Musikvertrieb oder Digitalisierung – Wer mal eine Pause von all dem Krach braucht, findet hier sicherlich eine passende Beschäftigung. Von den Auftritten selbst und deren Qualität ganz zu schweigen: Vermutlich gibt es nur wenige Gelegenheiten auf diesem Planeten, Musik aus all diesen Genres in derartiger (tontechnischer) Qualität zu hören. Zumal die Chance ausgesprochen groß ist, dass man als herumstreunender Musikliebhaber irgendwo etwas Außergewöhnliches auf die Ohren bekommt, was man so noch nicht gehört hat – und vielleicht auch nie wieder irgendwo hören wird. Nächstes Jahr wieder? Auf jeden Fall!