Konzertbericht: Riverside w/ A Day’s Work

2006-10-03 Essen, Zeche Carl

ZWISCHEN TRAUM UND REALITÄT

Schon beim ersten Teil der “Second LIVE Syndrome”-Tour im vergangenen April wurde wohl so ziemlich jedem Zuschauer klar, dass Riverside das Beste ist, was dem Prog seit Spock’s Beard passiert ist. Ich kenne jedenfalls keine weitere Band, die einen derart raketenartigen Aufstieg hingelegt hat und schon nach nur zwei Studioalben ausverkaufte Headliner-Shows spielen kann – und zudem nur ein halbes Jahr später schon wieder durch Holland, Polen und Deutschland reist. Mit genauso großem Erfolg. Klar natürlich, dass man sich da nicht zweimal bitten lässt. Auf also nach Essen in die Zeche Carl, in der wir einen Abend zwischen Traum und Realität erleben durften. Einen Abend, an dem die Grenze zwischen einfacher Musik, Emotionen und Spiritualität zu keiner Zeit so richtig klar erkennbar war; und der nicht bloß ein Konzert, sondern einfach nur eine fette Party war.

Als wir zehn Minuten vor Beginn in die Konzerthalle eintraten (diverse menschliche Bedürfnisse verhinderten ein früheres entern der „heiligen Hallen“), war diese schon reichlich gefüllt. Dennoch war es ein Leichtes, noch einen Platz in den ersten drei Reihen, direkt vor Bassist und Sänger Mariusz Duda und Gitarrist Piotr Grudzinski zu bekommen. Die Menge stand im vorderen Bereich nicht sonderlich gedrängt. Mir fiel sofort das zweite Schlagzeug-Set auf der Bühne auf. Blitzschnell erschloss ich daraus, dass es wohl entgegen aller Vorankündigungen doch eine Vorgruppe geben sollte, was „die klassische Metal1.Progschar“ Gunnar und mich (ergänzt um eine Kommilitonin von mir) nicht unbedingt zu Jubelstürmen anstiftete. Die Holländer A DAY’S WORK hatten am heutigen Abend also die leicht undankbare Aufgabe, für RIVERSIDE zu eröffnen.

In ihrem rund 45-minütigen Set spielte die erstaunlich junge, recht alternativ gestylte Band dann allerdings durchaus annehmbare Musik, irgendwo zwischen Pop, Alternative Rock und leichten Emocore- sowie Progelementen der Marke „neuere Marillion in ihrer eher poplastigen Phase“. Insgesamt nett anzuhören und musikalisch erstaunlich spielsicher vorgetragen, dennoch fehlte der Band so ein bisschen das letzte Quäntchen Überzeugung vom eigenen Material, jedenfalls erfüllten sie die „Anheizer“-Funktion einer Vorgruppe durch oft recht langsame Songs nur bedingt. Das passte zwar durchaus zum Hauptact, so richtig warm wurde man dennoch nur mit den letzten beiden Tracks des Sets von A DAY’S WORK. Auffällig war zudem, dass man sicherlich zwei Musiker ersatzlos von der Bühne hätte streichen können, ohne große Soundeinbußen hinnehmen zu müssen. Das gilt vor allem für den zweiten Gitarristen und die nur gelegentlich in Erscheinung tretenden Männer am Bass sowie der an der Keyboardsektion. Dennoch: Die reine Live-Performance von A DAY’S WORK war souverän, bodenständig und qualitativ absolut in Ordnung.

Nun hieß es aber gespannt warten, auf das, was da kommen mag. Gespannt war ich natürlich auch auf die Reaktion der mitgebrachten Kommilitonin – schließlich kannte sie bisher nur den Riverside-Zweitling und hört für gewöhnlich eher härtere Musik. Ich weiß nicht, ob ich es mir bloß eingebildet habe, aber sobald die vier Jungs die Bühne betreten hatten, das Licht ausging und die ersten sphärischen Keyboard- und Gitarrenklänge ertönten, lag sogleich eine Magie und Andächtigkeit in der Luft, die ihresgleichen sucht. Wie schon im April eröffneten Mariusz Duda & Co. ihr Set mit einem sich langsam steigernden Instrumental-Intro, welches von langsamen, atmosphärisch-streichelnden Tönen bis hin zu beinahe metallischem Riffing sämtliche Härtegrade durchlief. Natürlich machte man auch hier halt in der Prog- und Psychedelic-Musikgeschichte und zitierte wieder einen Part aus Pink Floyds bekanntem Song „Shine On You Crazy Diamond“. Besonders gespannt war ich darauf, ob die Band nun bei dieser Gelegenheit auch einige der Songs präsentieren würde, die sie auf der April-Tour nicht performt hatten. Sogleich wurde mein Wunsch erfüllt und der erste „richtige“ Song vom zweiten Album „Second Life Syndrome“ ertönte: Mit „Volte-Face“ begann eine ca. 110-minütige Reise in die Welt ausdrucksstarker, magischer, wahrhaftig fühlbarer Musik. Die rasenden Instrumentalpassagen luden zum Spielen sämtlicher Luftinstrumente und zum rhythmischen Bewegen sämtlicher Körperpartien ein, während der live wiedereinmal unheimlich starke Gesang von Mariusz Duda die Sinne betörte und wie eine Reise ins eigene Ich wirkte. Schnell stellte ich fest, dass Kollege Gunnar seine Instrumentenpalette aus der Hosentasche ausgepackt hatte, während schräg neben mir meine Kommilitonin spätestens beim nachfolgenden, knackig-kurzen „Artificial Smile“ mit ihrer psychedelischen Tanzaufführung, mitsamt vollem Körpereinsatz begann. Einen Meter weiter rechts durchlebte ich, vermutlich mit glänzenden Augen und ergriffenem Gesicht, am eigenen Körper jede einzelne Textzeile von „Artificial Smile“ und seinem depressiven Gegenstück „I Turned You Down“, die mein emotional nicht immer ganz leichtes Jahr optimal musikalisch untermalten. Es war, als würde ich die Stationen des Jahres mit Hilfe von Riverside Stück für Stück vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Am Ende von „Artificial Smile“ griff Mariusz stimmlich wieder in die Vollen, die Growls kamen nach wie vor unheimlich authentisch, roh und echt rüber, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass sie weniger hart und rau waren als noch im April.

Als nächstes stand dann schon wieder ein Highlight (diese Band hat nur Highlights!!) auf dem Programm: Jemand im Publikum schrie „Conceiving You“, was Mariusz mit einem beherzten Blick auf die Setlist am Boden und dem Satz „We’re playing a rock concert! What about something longer!?“ abtat. Es folgte die 15-minütige Odyssee “Second Life Syndrome”, die nun wirklich alles zusammenfasst, was dieses Band ausmacht. Von ruhigen, elegischen Passagen, die leicht an Porcupine Tree erinnern, über melodische Gitarrensoli, interessante Keyboard- und Schlagzeugarbeit, sowie alle Arten von Gesang dieser Erde, bis schließlich alles in einem Bombast-Inferno mündet. Unglaublich! Das muss wohl auch das Publikum gedacht haben, das an diesem Abend wieder mal unwahrscheinlich gut drauf war und wieder mit sämtlichen statistisch erfassten Zahlen anderer Prog-Konzerte brach: RIVERSIDE sind eine Art Massen-Phänomen. Anders lassen sich die Zuschauerzahlen, als auch die Art der anwesenden Menschen nicht erklären. Ich wiederhole mich gern: Vom truen Metalhead, über den verkopften, manchmal auch schon leicht angegrauten Proggie, bis hin zu stark nach HipHop-aussehenden, mitten in der Pubertät steckenden Mädchen war die Palette mal wieder breit gefächert. Diese arg unterschiedlichen Menschen waren es aber, die Riverside so abfeierten, dass diesen nichts anderes übrig blieb, als sich nach beinahe jedem Song mit leuchtenden Augen ehrfürchtig für soviel Applaus und Jubel zu bedanken. Ganz klar, diese Jungs können es selber nicht glauben! Ihre Erfolgsgeschichte ist ja auch unbeschreiblich! Sie bewirken viel mehr, als man in Plattenverkäufen und Konzertbesuchern statistisch erfassen kann. Diese gute Laune übertrug sich natürlich auch auf die Band, die spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht bloß ihre Songs spielte, sondern sie auch lebte und trotz aller harten, depressiven Texte, wahrhaftig feierte. Es war nicht nur ein Konzert, es war eine Party. Wir feierten die Band, und diese feierte sich selbst und das Publikum. Man muss es erlebt haben!

Nun aber weiter im Programm: Als nächstes gab es das fantastische „Loose Heart“, einer meiner Live-Favoriten und der knackigste Track vom Debüt „Out Of Myself“, der live ungleich atmosphärischer als auf dem Album rüberkommt, dennoch aber die gesamte emotionale Palette bereithält. Bei „I Believe“, meiner Lieblingsballade von RIVERSIDE, fiel es mir dann mal wieder schwer, nicht in Tränen auszubrechen. Dieser Song, dieser Text, dieses Atmosphäre, einfach alles berührt mich so sehr und passt so sehr auf meine Situation, dass ich ein ums andere Mal live mit meiner Fassung ringen muss. Groß, ganz groß! „In this moment I believe…”. Hier wurde mir dann auch bewusst, in was für einem Zustand ich mich gerade befand. Irgendwo zwischen Himmel und Hölle, zwischen Wut und Freunde, dennoch einfach erfüllt von der Magie des Augenblicks, von der Musik, die diese Herren dort auf der Bühne vollbrachten. Es war wie ein Rausch, es kam mir vor, als hätte das Konzert bislang nur wenige Augenblicke angedauert, es sollte man besten nie zuende gehen, und doch hatten wir schon Halbzeit. Ähnlich geht es mir im Prinzip nur noch bei Neal Morse, auch wenn es dort eine andere emotionale Ebene ist.

Nach diesem stillen Moment wechselte man harsch in den Partymodus: Das Instrumental „Reality Dream III“ stand an, ein Stück, welches live so manche Heavy Metal-Band das Fürchten lehrt, definitiv abrock- und headbangbar, wie wir und die umstehende Mannschaft eindeutig bewiesen. Ganz klar, man brauch Gunnar nur einen Moment ansehen, um feststellen, dass ihm dabei einer abgeht. Gleiches gilt wohl für Keyboarder Michael Lapaj, der zeitweise aus seiner Keyboardburg hervorkam, um seine Matte schwingen zu lassen und Luftgitarre auf der rechten Bühnenseite zu spielen. Als „Dance With The Shadow“ angekündigt wurde, freute sich meine Kommilitonin „Juhuu, mein Lieblingslied!“, was mich nicht weiter verwunderte, da sie für gewöhnlich auch Tool etwas abgewinnen kann, und „Dance With The Shadow“ trägt schon eine toolige Handschrift. „Ich find schon den Titel so geil! Ja, ein echt toller Song“. Mehr brauch dazu nicht gesagt zu werden. Mit „The Curtain Falls“ sollte dann leider schon der letzte Song des regulären Sets anstehen: Die Band beendete diesen Teil des Gigs wie im April mit einem langsamen Abgang eines jeden Bandmitglieds, angefangen bei Gitarrist Piotr Grudzinski, über Mariusz Duda und Death-Metal-Schlagzeuger Piotr Kozieradzki, bis schließlich nur noch der blutjunge „Musikstudent“ Michal Lapaj unter leisen Sphärentönen von der Bühne verschwand.

Traumatisiert von den gemeinsamen Erlebnissen bei Tool in Düsseldorf bekam ich von der Kommilitonin ein „Was, die gehen jetzt?“ zu hören, wohl voller Angst, sie würden, wie die Herren Keenan & Co., nicht mehr wiederkommen. Weit gefehlt. Als erstes auf der Zugabenliste stand das überlange, 15-minütige „The Same River“ – wirkte zwar maximal halb so lang, aber das ist wohl als größtmögliches Lob zu verstehen. Wiederum verschwand man vom Ort des Geschehens, um kurze Zeit später mit einem weiteren tollen Instrumentalstück, „Reality Dream II“, noch mal eine „Big Rock Show“ mit derbe „Knallpower“ und eine geile Party abzuziehen, sowie die Band ausführlich vorzustellen. Eigentlich hatte ich nun tatsächlich das Ende erwartet. Doch die Hallenbeleuchtung blieb aus, die Hintergrundmusik ertönte nicht – Anlass genug für die mit ca. 400 Seelen proppevolle Zeche, noch mal derbe mit Applaus und Zugaberufen erfüllt zu werden. Die Herren nahmen sich etwas Zeit, kamen aber dennoch wieder – neben mir hörte ich nur ein erbostes „die kommen noch mal wieder????“. Klar, „Out Of Myself“ stand noch auf dem Programm. Ein Song, der dem Konzert einen schönen Schlusspunkt setzte und schließlich dafür sorgte, dass lauter leuchtende Gesichter die Halle verließen. So soll es sein. 110 Minuten Action, Spaß und Spannung in großartigem Sound und spieltechnischer Perfektion – dazu eine emotionale Achterbahnfahrt deluxe, was will man mehr?

„Es war geil!!“, „Wer ist Tool???“, „die haben kein Konzert gegeben, sondern eine Party gefeiert!!!“, „die waren noch besser drauf als im April!!!“ – all das sind Sätze, die uns eins klar machen: Der Weg zum Prog-Newcomer dieses Jahrzehnts geht über RIVERSIDE, über eine Band, die alles richtig gemacht hat, die Tradition und Moderne vereint, die ihr Können für „echte“ Songs und Musik voller Seele einsetzt, die Hirn, Herz und Bauch gleichermaßen berührt. Mariusz & Co. werden sicherlich die Lorbeeren für ihre Anstrengungen und ihre natürliche, sympathische Art ernten. Ich mache einen Kniefall vor einem Gitarristen wie Piotr Grudzinski, der mich mit jedem Ton so ungemein zu berühren vermag. Ich sage es ungern, aber RIVERSIDE haben sich mit dieser Show bei mir ganz weit nach oben gespielt. Unser aller Helden Dream Theater haben mir in beinahe doppelter Spielzeit nicht so viele Gänsehäute und Abrock-Flashs verpasst. Oder wie ich auch sagen würde: „Geile Action!“.

Allesamt magnetisiert und total geflasht verließen wir die Konzerthalle. Für Gunnar und mich war der Abend im übrigen noch lange nicht vorbei. Die Party ging im Auto mit einer einstündigen Hörsession (und größtenteils auch Gesangssession) des Sieges Even-Überwerks „The Art Of Navigation By The Stars“ weiter, bei der wir beide dann doch ein ums andere Mal feststellen mussten, das wir den besten Abend des Jahres erlebt hatten. Nachdem wir meine Kommilitonin nach Köln gebracht hatten, machten wir einen kurzen Abstecher zum an der Abfahrt gelegenen McDonalds, um uns für die weiteren Aktivitäten dieser Nacht zu stärken. Wir hatten beschlossen, uns auf dieses Erlebnis noch ein schönes Bierchen in einer russischen Bar in Bonn zu genehmigen. Keine Sauferei, lediglich das I-Tüpfelchen auf dem I. Ich entschied mich in dieser Bar für ein polnisches Starkbier, zu ehren der vier Herrschaften, die ab jetzt die Messlatte für alle neuen Bands des Sektor sind. Das 0,5 Liter „Tatra“ schmeckte hervorragend. Da der Abend so angebrochen war (und in Ermangelung passender Verkehrsmittel für Gunnars weitere Heimreise), entschieden wir uns, noch in meine Studentenbutze zu gehen, um uns nun dem völligen Kiffertum hinzugeben. Nein, wir reden hier nicht von wohlriechenden Kräutern, sondern von weiß-lila-blau-geblumten Jacketts mit rosa Hemden, headbangenden Jon-Anderson-Kopien und Symphonic-Proggern mit komischen Frisuren. Für alle, die keine Insider sind: Wir schauten uns die neue Flower Kings-DVD „Instant Delivery“ an. Einfach nur herrlich. Dennoch fiel ich irgendwann zunehmend dem Sekundenschlaf zum Opfer, weshalb Gunnar dann so gegen kurz vor halb acht meine Räumlichkeiten verließ, um die nächste S-Bahn Richtung seinem Stadtteil zu nehmen. Bleibt nur noch zu erwähnen, dass ich mich anschließend todmüde (Superlativ von „müde“) auf mein Bett schmiss, zwei Stunden Tiefschlaf hielt, um dann hundemüde (Komparativ von „müde“) zur Einführungsveranstaltung fürs dritte Semester zur FH zu gehen, zu welcher ich natürlich auch noch zu spät kam. Tolle Grütze! Danach schnell wieder nach Hause ins Bett. Ein toller Tag, nech?

Zu schön, um wahr zu sein. Könnte fast ein Traum gewesen sein. Doch es war Realität. Schön, dass man noch Zeit hat, um zu leben.

Setlist:
– Intro (inkl. Shine On You Crazy Diamond)
– Volte-Face
– Artificial Smile
– I Turned You Down
– Second Life Syndrome
– Loose Heart
– I Believe
– Reality Dream III
– Dance With The Shadow
– The Curtain Falls
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– The Same River
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– Reality Dream II
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– Out Of Myself

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