Bereits im Vorfeld der zweiten Auflage des „Prog In Park“-Festivals in Warschau, Polen, wurden dem Festivalveranstalter etliche Steine in den Weg gelegt. So sagte der zweiten Headliner, SONS OF APOLLO, kurzfristig ab und auch der wunderschöne Park im Warschauer Stadtteil Wola fällt zwei Wochen vor dem Festival als Veranstaltungsort aus, sodass das Event kurzerhand in den kleinen Club „Progresja“ verlegt wird. Sehr zum Ärger der Fans, da der Club als „Schwitzkasten“ bekannt ist.
Da viele kurzfristig ihre Eintrittskarten zurückgeben, versucht es der Veranstalter in Kooperation mit dem Clubbesitzer mit Schadensbegrenzung, indem er gleich zwei Klimaanlagen einbauen lässt. Wie sich später herausstellt, nützen diese – zumindest bei Außentemperaturen von über 35 °C im Prinzip nichts.
Für Fans der verbliebenen Bands ist die Absage eines Headliners allerdings ein Glücksfall, denn alle anderen Hauptacts wie IHSAHN, LEPROUS und natürlich ANATHEMA bekommen dadurch erheblich mehr Spielzeit, was vor allem ANATHEMA mit einem zweistündigen Set ausnutzen. Außerdem geben alle Bands vor der Location einstündige Autogrammstunden.
Nach verspätetem Einlass betreten gegen 17:00 Uhr POSTCARDS FROM ARKHAM die Bühne. Mit atmosphärischem Post-Rock mit Black-Metal-Einflüssen und einer psychedelischen Lichtshow sorgen die Tschechen für den ersten Aha-Effekt des Abends. Ihren eigenen Fanclub haben sie auch gleich mitgebracht, so dass sie trotz ihres eher geringen Bekanntheitsgrades immer eine ordentliche Portion Applaus absahnen können. Die Songs sind vornehmlich dem 2017er-Album „Manta“ entnommen. Man muss der Band zu Gute halten, dass sie alles auffahren, was geht: Sie legen Gefühl in ihre Performance, interagieren gut mit dem Publikum, versuchen, akkurat und leidenschaftlich zu spielen. Trotz allem fehlt am Ende die musikalische Tiefe – insbesondere im Vergleich zu den nachfolgenden Bands.
Mindestens ein Level besser sind TIDES FROM NEBULA, eine einheimische Post-Rock-Band aus Warschau, die es bereits auf Platz 33 der Polnischen Charts geschafft hat. Die Band kann bereits auf eine zehnjährige Bandgeschichte zurückblicken und ist spontan als weiterer Support-Act eingesprungen, als SONS OF APOLLO abgesagt hatten. Musikalisch sind die Polen für viele ein Genuss. Sie spielen vermehrt langsame, gefühlvolle Stücke, in denen sie zeigen können, welch sphärische Stimmung Gitarren zusammen zaubern können, wenn man sie richtig spielt. Es gibt sowohl knifflige Gimmicks als auch eingängige Melodielinien zu hören, alles unterlegt mit getragenem Klargesang. Auch TIDES FROM NEBULA haben eine überzeugende Lichtshow, der Schlagzeuger sogar seine eigene Leuchtstangen-Dekoration hinter dem Drumset. Und obwohl die Jungs als Lokalmatadoren sehr viel Applaus einsacken können, steigt trotzdem langsam aber sicher die Vorfreude auf die weitgereisten Headliner aus Norwegen.
Gegen 19 Uhr schallen sanfte Cello-Klänge aus der Konzerthalle nach draußen, wo gerade die gut besuchte Autogrammstunde von Ihsahn zu Ende geht, um auch die letzten LEPROUS-Fans zurück in die Halle zu locken. Raphael Weinroth-Browne ist der Name des begnadeten Cellisten, der so oft wie möglich zu den Live-Auftritten von LEPROUS hinzugeholt wird. Nicht nur bei den langsamen Songs mit gefühlvollen Streicherparts setzt er so Akzente. Auch zu den rasanten Stücken kann er einiges an abgefahrenen Klängen beitragen. Wie zuletzt immer, eröffnen LEPROUS ihren Gig auch heute mit „Bonneville“ und „Stuck“ von ihrem letzten Album „Malina“. Wer die Band kennt, weiß jedoch, dass sie bei jedem Auftritt eine andere Setlist abarbeiten. Natürlich schaffen es dabei auch weitere „Malina“-Stücke ins Set, das fast schon poppige „From The Flame“ etwa oder das besonders gefühlvolle „Mirage“.
Für Erstaunen sorgen dafür einige ältere Stücke wie „Salt“, bei welchem der ehemalige LEPROUS-Gitarrist Øystein Landsverk hinzugeholt wird, oder das Herzschmerz-Meisterwerk „The Cloak“. Leider haben LEPROUS Soundprobleme, eine Monitorbox fällt plötztlich komplett aus. Aber die Norweger sind natürlich Profis genug, sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Exakt und passioniert spielen sie ihre Instrumente und Frontmann Einar Solberg singt sogar noch mitreißender als sonst. Allzu viel sieht man von den Musikern dabei jedoch nicht. Zumindest, wenn sie auf der ansonsten dunklen Bühne nicht gerade von einem Lichtkegel getroffen werden. Auch Interaktion mit den Fans findet kaum statt – beides natürlich gewollte Effekte. Zum Abschluss kommt noch ein echtes Highlight: Niemand Geringeres als Ihsahn betritt beim finalen „Contaminate Me“ vom 2013er-Album „Coal“ die Bühne, um das Stück mit LEPROUS zusammen zu spielen. Das Publikum ist in Ekstase, die Stimmung auf dem Höhepunkt. Nur die Aussicht darauf, dass Ihsahn selbst als nächstes auf der Bühne stehen wird, vermag jetzt darüber hinwegzutrösten, dass die Spielzeit von einer Stunde gefühlt so schnell vergangen ist.
- Bonneville
- Stuck
- The Flood
- From The Flame
- Salt
- Illuminate
- The Price
- The Cloak
- Mirage
- Contaminate Me
20 Uhr… Zeit für den Meister! IHSAHN und seine Liveband betreten nach nur kurzer Pause die Bühne und legen rasant mit „Lend Me The Eyes Of Millennia“ und „Arcani Imperii“ vom neuen Album „Àmr“ los. Doch wer denkt, IHSAHN – der live übrigens keinen Bassisten dabei hat und stattdessen eine Moog-Bass-Programmierung benutzt – würde einfach einmal das neue Album komplett durchspielen, der irrt. Das ist dem Chef zu simpel. Stattdessen sorgt er im Anschluss für eine Überraschung, als er LEPROUS-Sänger Einar Solberg noch einmal auf die Bühne zitiert und mit ihm zusammen das Duett „Celestial Violence“ vom 2016er Album „Arktis“ singt. Nicht zuletzt, da Einar mit einer grandiosen Vocal-Performance und herausragender Leidenschaft brilliert, einer der Gänsehautmomente des Abends. Anders als Leprous zuvor gibt sich IHSAHN äußerst redefreudig: Der Norgweger lässt es sich nicht nehmen, zu fast jedem Song eine kleine „Vorrede“ zu halten, in der er seinen Bezug zum jeweiligen Lied erklärt – etwa, vor „My Heart Is Of The North“, wie fantastisch es sich anfühlt, nach einer Tour wieder nach Hause zu kommen. Beim nicht zufällig gefühlvollsten Song von „Àmr“, „Sámr“ (der Titel ist das alt-norwegische Wort für „Liebe“), schlagen die Soundprobleme wieder zu. Aber auch IHSAHN vermag das mit Leichtigkeit zu überspielen und zaubert das fulminante Gitarrensolo des Songs glasklar und mit einer Perfektion, die Ihresgleichen sucht auf das Griffbrett. Nichtsdestotrotz ist es wohl eher der Hitze im Club geschuldet, dass ein Mädchen aus dem Publikum ohnmächtig wird und ambulant betreut werden muss. Nach vielen weiteren Klassikern wie „Until I Too Dissolve“, „Mass Darkness“ oder „Frozen Lakes On Mars“ geht auch dieser Gig nach genau einer Stunde unter frenetischem Jubel zu Ende.
- Lend Me The Eyes Of Millenia
- Acani Imperii
- Celestial Violence
- Mass Darkness
- Until I Too Dissolve
- My Heart Is Of The North
- Sámr
- Frozen Lakes On Mars
- A Grave Inversed
- The Grave
Die aus den verschiedensten Ländern angereisten Fans von ANATHEMA haben an diesem Abend das größte Glück, denn die Band hat keine Vorgaben zur Spielzeit erhalten. Dies wissen ANATHEMA auszunutzen und lassen sich bereits beim Soundcheck Zeit. Dafür bieten sie den Fans dann aber auch brillanten Klang, als sie gegen 22:30 Uhr ihren Gig mit „Deep“ und „Lost Control“ beginnen. Bereits bei diesen beiden Tracks, die von den Cavanagh-Brüdern noch allein gespielt werden, wird den Besuchern klar, dass heute alle Klassiker und die absoluten Lieblingssongs der Fans gesungen werden. Der Applaus will kaum abebben, als direkt „Can’t Let Go“ und „Endless Ways“ folgen – nun auch mit Sängerin Lee Douglas. ANATHEMA setzen auf Gefühl, Atmosphäre und Klangwelten: Lichtgewitter brauchen sie nicht, die Band bleibt schlicht in sanft blaues Licht gehüllt und somit die ganze Zeit für die Besucher sichtbar. Jedes Dankeslächeln der Musiker wird so in den vorderen Reihen wahrgenommen und mit Jubel quittiert. In dieser familiären Atmosphäre begeben sich ANATHEMA zusammen mit ihren Fans auf eine Reise durch die Bandgeschichte, während derer sie ihren Stil ja immer mal wieder geändert haben. Mit Perlen wie „The Optimist“, „The Lost Song“ und „A Natural Desaster“ treiben sie einigen ihrer Fans dabei die Freudentränen in die Augen. Mit Leichtigkeit gelingt es ANATHEMA so, die Stimmung volle zwei Stunden lang hoch zu halten. Zweifel daran, dass es für sie ein Leichtes ist, Musikliebhaber verschiedenster Genres glücklich zu machen, lassen sie dabei keine.
- Deep
- Lost Control
- Can’t Let Go
- Endless Ways
- The Optimist
- The Lost Song, Part 3
- Barriers
- Thin Air
- Springfield
- The Beginning And The End
- Universal
- Closer
- A Natural Desaster
- Distant Satellites
- Untouchable, Part 2
— - Fragile Dreams
Wenngleich der Veranstalter des PROG IM PARK mit der Bandauswahl wirklich viel Geschmack bewiesen hat, hatte er mit Bandausfällen und dem erzwungenen Locationwechsel viel Pech. Am Ende haben die Besucher dennoch das Beste daraus gemacht: Den Ticketkauf dürften trotz der enormen Hitze im Club die wenigsten der tatsächlich angereisten Fans bereut haben. Bleibt abzuwarten, ob dieses kleine, aber lobenswerte Festival in den kommenden Jahren Bestand haben wird. Es wäre wünschenswert!