Konzertbericht: Nine Inch Nails w/ The Dresden Dolls

2005-06-15 Berlin, Columbiahalle

Geschlagene fünf Jahre sind seit dem letzten Auftritt der NINE INCH NAILS in Berlin vergangen. Oder sollte man besser sagen, seit dem letzten Auftritt von Trent Reznor? Denn schließlich ist es ja doch eher ein Soloprojekt von Trent Reznor mit Gastmusikern auf der Bühne. Diesmal hatte er wieder eine komplett neue Besetzung dabei. Aaron North (Ex-ICARUS LINE) an der Gitarre, den allseits bekannten Jeordie „Twiggy Ramirez“ White (A PERFECT CIRCLE, Ex-MARILYN MANSON) am Bass, Jerome Dillon hinter dem Schlagzeug und Alessandro Cortini am Keyboard. Im Gepäck das neue Werk „With Teeth“, welches nach anfänglichem Missfallen doch zu überzeugen weiß. Die Columbiahalle war erwartungsgemäß in Rekordzeit ausverkauft (es war schließlich neben den Festivalauftritten der einzige eigenständige Hallen-Gig) und an diesem Tag bei Temperaturen im hohen Zwanziger-Bereich warm wie eine Sauna.

Doch für die Industrial Rocker war es noch etwas zu früh, erst einmal durften THE DRESDEN DOLLS auf die Bühne. Ein junges Duo aus Boston, bestehend aus der singenden Pianistin Amanda und Schlagzeuger Brian. Ihre Musik ist wirklich innovativ, deftiges Schlagzeugspiel mit vielen Breaks, schöne Klavier-Klänge und eine helle Frauenstimme, die Musik im Stil der „Goldenen Zwanziger Jahre“ und natürlich auch zeitgenössisch beeinflusst. Außerdem waren die beiden wie Pantomimen weiß im Gesicht bemalt und haben einen Hang zum Schauspielern, was durch kurze theatralische Gesten und Einlagen deutlich wurde. So ist die selbstbestimmte Definition „Brechtsches Punk-Kabarett“ auch wirklich zutreffend auf die Musik und die Darbietung der beiden. Unglaublich kreativ wie die zwei ihre Songs umsetzten. Brian war kaum im Zaum zu halten, trommelte so energisch, präzise und gefühlvoll, dass dabei einem das Herz aufging. Der Typ würde sich bestimmt auch in einer Prog-Rock- oder -Metal-Band wohlfühlen hab ich den Eindruck.
Die Songs sind mal im Mid-Tempo, mal sehr fetzig. Mit „Coin-Operated Boy“ spielen sie ihren Single-Hit und mit „War Pigs“ ein zeitloses BLACK SABBATH-Cover. Amanda singt ein Lied in fast akzentfreien Deutsch und macht auch die meisten Ansagen in der Muttersprache der Anwesenden. Das bringt Sympathiepunkte und als die beiden nach dem NIN-Auftritt auch noch Autogramme geben wollen, hat sich der offene Musikliebhaber gerade in eine neue Band verliebt. Wem es noch immer nicht aufgefallen ist: Ich fand sie großartig! Viele im Publikum fanden sie ebenfalls klasse, die Reaktionen waren sehr positiv!
Nach ca. 40 Minuten war das Set dann leider beendet und die Umbauphase begann.

Eine große Leucht-Panel-Wand stand hinter der Bühne und sollte die folgenden 90 Minuten perfekt in Szene setzen: Reznor betritt im schicken weißen Hemd die Bühne und beginnt mit dem Klavier-Intro „The Frail“ vom letzten Album „The Fragile“. Es war drückend voll und wie erwähnt fliesst der Schweiß schon seit geraumer Zeit literweise, der Opener „The Wretched“ bringt die wartende Fanschar dann endlich in Ekstase. „Now, you know, this is what it feels like!“ – besser kann man es nicht beschreiben! Man wird regelrecht von der brachialen Soundwand erdrückt – Wahnsinnsgefühl!Weiter gehts mit dem derben „Wish“ von der „Broken EP“. Die Halle kocht – ein einziges Menschenknäuel bewegt sich zu den düsteren Industrial-Klängen.

Reznor entledigt sich bald seines Hemdes und offenbart einen extrem muskulösen Oberkörper, was viele weibliche Fans noch mehr begeistert.Gitarrist Aaron North entpuppt sich als hyperaktiver Gitarren-Herumschleuderer. Beeindruckend wie man die Töne noch treffen kann, obwohl die Gitarre ständig durch die Luft wirbelt.
Kommunikation zwischen Reznor und Berlin findet bis auf ein paar mal „Thank You“ nicht wirklich statt, die ganze Zeit über herrscht eine große Distanz. Dafür spielt die Band ihr Set sehr präzise und ohne merkliche Fehler herunter. Alles wirkt von vorne bis hinten perfekt. Fast schon zu professionell.
Jeordie White bewegt sich wie immer nicht besonders viel, wechselt dafür mal zwischen Bass und Gitarre und darf etwas zum Hintergrundgesang beitragen. Einzig der schon erwähnte North setzt sich neben Mastermind Reznor in Szene. Homogen wirken die Musiker auf der Bühne nicht, bis auf den Frontmann sind sie wirklich austauschbar, fast Statisten möchte man sie nennen. Da kann North auch noch so oft die Gitarre malträtieren. Reznor ist und bleibt Mittelpunkt des Geschehens, des Interesses und der Begeisterung. Ganz nach seinem Willen.

Die Auswahl der Songs ist bei den Nine Inch Nails ein Luxusproblem. Bei einem Repertoire, das sich im Prinzip nur aus Meisterwerken wie „The Downward Spiral“ und „The Fragile“ sowie dem ausgezeichneten Album „Perfect Hate Machine“ und der unvergesslichen „Broken EP“ rekrutiert, werden 95% aller Bands neidisch.
Variiert wird das Material bzw. die Musik kaum. Braucht man eigentlich auch nicht, wenn man sieht wie frenetisch die Fans alles abfeiern was gespielt wird. Berlin liegt Reznor zu Füßen und frisst ihm regelrecht aus der Hand.
Bei ruhigen Momenten, wie bei dem verbitterten „Something I Can Never Have“ oder dem Welthit „Hurt“, gröllen die meisten Kehlen in der Columbiahalle mit. Aber auf mich will der Funke nicht überspringen, an der Stelle wirkt es erstaunlich emotionslos für diesen Song. Dafür entschädigen Kracher wie „Sin“, „March Of The Pigs“, der neue Dancefloor-König „The Hand That Feeds“, der Klassiker „Closer“, das nihilistische „Burn“ (aus „Natural Born Killers“), das zerstörerische „You Know What You Are?“ oder das psychotische „Gave Up“. Bei NIN gehen einem halt schnell die negativen Superlative aus. Mit „Dead Souls“ wird ein weiter Soundtrack-Beitrag (aus „The Crow“) gespielt. Die eingangs erwähnte Lichtshow wirkt nach kurzer Zeit leider zu bombastisch übertrieben. Gleißendes Licht verwehrt den Zuschauern ein ums andere Mal den Blick auf die Bühne. Sei’s drum.

Von der neuen Platte „With Teeth“ werden noch “The Line Begins To Blur”, “Love Is Not Enough” und “Home” aufgeführt. Abschließen tut man mit den Hits „Starfuckers Inc.“ und „Head Like A Hole“. Ich suche bei den ausklingenden Tönen von letzterem die Garderobe auf, da mir klar ist, dass keine Zugabe erfolgen wird und ich eine ähnliche Setlist vorher leider schon im Internet gefunden habe und mir so selbst ein wenig die Überraschung genommen habe. Nun denn, klitschenass durch die Menge, vorbei an den tollen The Dresden Dolls (mit denen ich mich gerne bei kleinerer Menschenanzahl unterhalten hätte), zum Rucksack und hinaus an die frische Luft. Ach ja, viele warteten noch vergebens während die Roadies schon abbauten. Das obligatorische Instrumente-zerdeppern von Reznor und North habe ich zwar verpasst, aber das finde ich eh albern und sinnlos. Sicherlich bleibt die Setlist bei vielen Fans streitbar, von „The Fragile“ war z.B. nicht allzu viel vertreten, aber das muss man nun mal akzeptieren. Man bekommt Anderthalb-Stunden pure Unterhaltung, nicht mehr, nicht weniger.

Alle die mit der Band nichts anfangen können haben also „nur“ eine gut inszenierte Rockshow verpasst. Wer hingegen NIN-Fan ist sollte Trent und seine Mannen mal gesehen haben, die Besetzung spielt keine Rolle, kann auch bei der nächsten Tour zum nächsten Album sein. Macht eh keinen Unterschied. Könnte zwar ein bisschen dauern bei Reznors Arbeitstempo, aber wer weiß, vielleicht kommt er ja das nächste Mal eher wieder nach Deutschland für ein Einzelkonzert. Dann allerdings ohne mich. Einmal reicht irgendwie.

Setlist:
01. The Frail
02. The Wretched
03. Wish
04. Sin
05. The Line Begins To Blur
06. March Of The Pigs
07. Something I Can Never Have
08. The Hand That Feeds
09. Terrible Lie
10. Closer
11. Love Is Not Enough
12. Home
13. Burn
14. Reptile
15. You Know What You Are?
16. Suck
17. Gave Up
18. Hurt
19. Dead Souls
20. Starfuckers Inc.
21. Head Like A Hole

Geschrieben am 15. Juni 2005 von Metal1.info

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